Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Straßen von New Orleans. Soeben sind sie am City Park vorübergekommen, jetzt geht die Fahrt weiter nach Westen. Der Zauberer fährt mit Höchstgeschwindigkeit auf die riesige Brücke über den Pontchartrain-See zu. Holly liest in den Gedanken des Ritters, dass das Unwetter an Heftigkeit zugenommen hat und die Deiche anfangen nachzugeben. All die armen Menschen, die jetzt im Einkaufszentrum in der Falle sitzen, geht es ihr durch den Kopf.
Man erkennt die Auffahrt zur Brücke. Polizeibeamte, die Taschenlampen schwenken, rufen Kano zu, er solle abbremsen. Mit einem Lächeln auf den Lippen durchbricht der Zauberer die Straßensperre und fährt auf die Brücke. Das Wasser ist unvorstellbar hoch gestiegen. Wütende Wellen brechen sich an den Brückenpfeilern, die unter dem Anprall stöhnen. Ein Schauer erfasst Holly, als sie das Zittern und Schwanken der Fahrbahn wahrnimmt. Es kommt ihr vor, als wolle der See ihrer Fahrt Einhalt gebieten. Sie weint. Der Elf versucht, sie zu trösten. Sie will ihn von sich stoßen, doch er drückt sie ein wenig fester an sich.
Er riecht gut, warm und angenehm. So riecht Papa. Holly gibt den Widerstand auf und legt den Kopf an seine
Schulter. Ihr fällt auf, dass sie vergessen hat, wie ihr Vater heißt. Sie drückt ihr Gesicht in den weißen Umhang des Elfen, damit niemand hört, dass sie wie ein erschöpftes kleines Mädchen zu schluchzen beginnt. Ein vierhundert Jahre altes kleines Mädchen.
11
Im Fond ihres Wagens schluckt die Verehrungswürdige Mutter Hanika ihre Tränen herunter. Das von Debbie ausgesandte Signal ist soeben verebbt. Langsam schließt sich die Oberfläche der Macht über ihr, wie das Meer über einem Ertrunkenen. Hanika konzentriert sich auf die anderen Verehrungswürdigen Mütter, die im Begriff stehen, die Stadt zu verlassen. Wie vorgesehen werden sie sich im Versuch, einen undurchdringlichen Kreis um das letzte Heiligtum zu bilden, an einige Dutzend Kilometer von New Orleans entfernt gelegenen Rückzugsorten verborgen halten.
Der Wagen beschleunigt auf der Einfahrt zur Interstate 10, Richtung Baton Rouge. Hanika versinkt tiefer in ihre Trance. Haushohe Wellen stürmen gegen die Buchten von Terrebonne, Timbalier und Barataria an, sodass das Bayou und der Salvador-See über die Ufer treten. Weiter im Osten sind die Chandeleur-Inseln unter wahren Wasserwänden verschwunden. Sie dringen jetzt in die Trichtermündung des Borgne-Sees ein, der seinerseits über die Ufer tritt, sodass der Pontchartrain-See keinen Ausweg für seinen Überschuss an Wasser hat. Hanika ballt die Hände zu Fäusten. Da es für den Mississippi keine Abflussmöglichkeit gibt, tritt auch er über die Ufer und schickt seine wütenden Wassermassen in die tiefer gelegenen Stadtviertel. Die Verehrungswürdige Mutter sieht die von allen Seiten
bedrängten Deiche vor sich. Sie lösen sich auf, die Fluten der Seen und des Flusses vereinigen sich. Gerade als sie die Augen wieder öffnen will, erschüttert ein mächtiges Beben ihren Geist. Es überläuft sie eiskalt. Die Aïkane, auserwählte junge Frauen, denen die Verehrungswürdigen Mütter ihre Macht weitergeben sollten, senden Hilferufe aus. Sie hatten, in Motels über die Stadt herum verstreut, auf die Übertragung der Macht gewartet. Unmittelbar bevor die Deiche nachgaben, hätten die Hüter zu ihnen stoßen sollen, um sie in Sicherheit zu bringen. Hanika konzentriert sich. Das Heer der Obdachlosen... Sie waren von Anfang an dort. Auf ein Zeichen ihres Anführers hin haben sie, unmittelbar bevor ihn Kano umgefahren hat, das Unwetter genutzt, um die Auserwählten anzugreifen. Zweien der jungen Frauen ist es gelungen, über die Feuerleiter aus ihrem Motel zu entkommen. Hanika versetzt sich in den Geist einer von ihnen. Wasserströme laufen der Aïkan über die nassen Haare. Sie hat Angst. Sie schluchzt. Sie ist außer Atem. Sie heißt Ilya. Sie hat sich auf das Dach des Motels gerettet und versucht jetzt, die stählerne Leiter hochzuziehen, wobei sie vor Anstrengung stöhnt. Der Auslösemechanismus klemmt. Sie wendet sich um. Ein Dutzend Obdachlose mit Blut auf Händen und Unterarmen nähert sich. Sie schwingen schwere Schraubenschlüssel, Messer und Holzknüppel. Ihre Augen sind leer. Als sie nur noch wenige Meter von Ilya entfernt sind, tritt sie an den Rand des Daches und beugt sich vor, um einen Blick auf den vom Regen gepeitschten Hotelparkplatz zu werfen. Als sie die Anwesenheit der Verehrungswürdigen spürt, sagt sie: »Verzeihung,
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