Die Brut
seinen Handgriffen zu, als sei es ein fremder Körper, an dem er arbeitete. Sie wusste, dass es jedes Mal einen Schmerz gab, wenn er mit seiner rostbraun getränkten Watte ihr offenes Fleisch berührte, aber sie spürte nichts.
»Haben Sie sich vor kurzem schon mal im Gesicht verletzt?«
»Wie?«
»Sie haben da eine Wunde an der Stirn, die aussieht, als ob sie etwas älter wäre.«
»Ach die. Ja.«
Tessa machte eine flüchtige Geste, als wolle sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen.
»Das ist nichts. Ich habe mir den Kopf gestoßen.«
Der Sanitäter gab einen Laut von sich, den Tessa weder als Zustimmung noch als Zweifel deuten konnte. Ihr Hals begann wieder zu brennen.
»Victor … Gestern … Ich … Finden Sie ihn …« Die Tränen kamen so plötzlich, dass sie nicht mehr die Zeit hatte, die Augen zu schließen. Der Sanitäter war mit dem kleinen Gazepflaster, das er gerade über ihre geklammerte und gereinigte Hinterkopfwunde hatte kleben wollen, einen Schritt zurückgetreten. Die Sanitäterin verstärkte den Druck auf Tessas Hand. »Sollen wir Ihnen nicht doch etwas zur Beruhigung spritzen?«
Tessa schüttelte die Hand, die schon viel zu lange auf der ihren gelegen hatte, ab.
»Wenn Sie mir vielleicht ein Taschentuch geben könnten.«
Am Nachbartisch im Restaurant hätte Tessa den Mann, der eine Viertelstunde später zu ihr in den Rettungswagen geklettert kam, für den Erd- und Gesellschaftskundelehrer an einem liberalen Gymnasium gehalten. Nie wäre sie darauf gekommen, dass er Kriminalhauptkommissar sein könnte. Die großen, blassen Augen, die grauen Locken und der hängende Schnurrbart verliehen seinem Gesicht etwas Trauriges. Keine Spur von Staatsmacht.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Arndt Kramer, nachdem er auf dem unbequemen Sitz gegenüber der Liege Platz genommen hatte.
Beinahe hätte Tessa gelacht.
Herr Kriminalhauptkommissar, wie fühlen Sie sich heute? Haben Sie schon als Kind gern mit toten Katzen und Mäusen gespielt?
Die Wunde an ihrem Hinterkopf begann zu pochen. Die Sanitäter hatten den Rettungswagen verlassen.
»Victor. Sie müssen ihn finden.«
»Können Sie mir erzählen, was passiert ist?« Seine Stimme war sachlich. Hatte nichts von der Besorgtheit des Vertrauenslehrers, die Tessa erwartet hätte.
»Ich war Laufen … Jemand hat mir etwas über den Kopf geschlagen … Und als ich wieder zu mir gekommen bin … war … war Victor weg.«
Der Kommissar schaute sie ruhig an. Nicht unfreundlich. Aber auch nicht freundlich. Sie konnte seinen Blick nicht lesen.
»Sie waren hier im Park joggen. Mit Ihrem Sohn.«
Die Stimme passte nicht zu seinem traurigen Gesicht. Es war die Stimme eines Zollbeamten, der zu viele Nachtschichten hinter sich hatte. Tessa spürte, wie die Tränen von ihrem Kinn in den Schoß tropften.
»Ich will meinen Sohn wiederhaben.«
Sie brauchte ein neues Taschentuch. Das, welches die Sanitäterin ihr vorhin gegeben hatte, war vollständig zerfasert.
»Wie alt ist Ihr Sohn?«
»Am sechsten Juni ist er ein Jahr alt geworden.«
»Können Sie eine genauere Zeitangabe machen, wann der Überfall passiert ist?«
»Ich weiß es nicht … kurz … vor … fünf … fünf.« Sie musste jetzt nach jedem Wort Luft holen, die Tränen rollten immer heftiger. Sie begriff nicht, warum ihr der Kommissar kein Taschentuch anbot. Ihre Hand fuhr in ihre rechte Hosentasche hinein. Ihre Finger berührten zusammengeknüllten Zellstoff.
Arndt Kramer warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Und dann haben Sie gleich die Polizei gerufen.«
»Ich habe nach Victor geschrien … Und dann bin ich in den vorderen Teil des Parks gerannt … Bis ich diese Frau getroffen habe … Sie hat die Polizei gerufen.«
»Sie selbst hatten kein Handy dabei?«
Ihre Faust ballte sich um das Taschentuch in ihrer Hosentasche. Etwas Hartes, Spitzes stach in ihre Handfläche. Ein Stück Rinde. Ihr Herz nahm Anlauf zu einem neuen Sprint. Ohne zu blinzeln sah sie dem Kommissar in die blassgrünen Augen. »Der Akku ist fast leer. Ich habe letzte Nacht vergessen, ihn zu laden.«
»Haben Sie den Täter gesehen?«
Tessa schüttelte den Kopf. »Entschuldigen Sie.« Sie drehte sich leicht zur Seite, zog das Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schneuzte. Sie stopfte das Tuch zu dem, das in ihrer linken Faust zerfasert war.
»Warum sitzen wir hier noch herum? Sie müssen Victor finden.«
»Unsere Leute sind schon auf dem Weg. Sie werden den ganzen Park durchkämmen. Vielleicht ist der
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