Die Brut
Linken schob sie den Babyjogger. Erste Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach. Fliegen starteten im Morgenlicht. Jeder Fehler, den sie schon gemacht hatte oder noch machen würde, blieb an ihr hängen. Als stapfe sie durch schweren Schlamm, würde die Fehlerschleppe hinter ihr wachsen und schwerer werden, bis sie eines Tages nicht mehr weiterkonnte. In der Ferne hörte sie einen Hund bellen. Der Tag war viel zu schön für Unwiderrufliches. Sie hatte keine Zeit mehr. Sie musste es tun.
Einmal kräftig. Sehr kräftig.
Jetzt.
Sie war gesprungen. Kopfüber von der Stange, an der sie eben noch sicher in den Kniekehlen geschaukelt hatte. Sie begriff nicht, was geschehen war. Noch nie war sie in langbeinigen Turnhosen aufs Gerüst geklettert, immer nur mit nackten Knien, der Sommer war vorbei, die rutschige Kunstfaser hatte sie fallen lassen. Ihre Hände wühlten im Sand, als könnten sie dort die Luft finden, die in ihre gestauchten Lungen nicht mehr hineingehen wollte.
Theresia!
Sie spürte einen Schatten über sich, war unfähig, die Augen zu öffnen.
Theresia!
Ihre Hände griffen etwas Hartes im Sand. Glatt. Rund. Kühl.
Theresia!
Sie hatte es gefunden. Niemand durfte es ihr wegnehmen. Da spürte sie auch schon, wie ihre Finger auseinander gebogen wurden, sie wollte schreien:
Nein!
– aber ihre Lungen waren leer.
Und deswegen bist du gesprungen?,
sagte die Turnlehrerin, vorwurfsvoll, und warf das Fünf-Mark-Stück in den Sand zurück.
Die Milchglasscheiben erlaubten ihr nicht, nach draußen zu sehen. Zu den beiden grün-weißen Fahrzeugen, die auf dem Rasen geparkt hatten, zu den kreisenden Blaulichtern. Die Reporter mussten jetzt da sein, vielleicht die ersten Fernsehkameras. Vorhin, als einer der uniformierten Beamten die Hecktüren des Rettungswagens kurz geöffnet hatte, um zu ihr hineinzusteigen, glaubte sie, einen Kollegen gesehen zu haben, der über den Rasen lief. Die Frau mit dem Hund würde die ersten Interviews geben. Sie würde ihre Sache nicht gut machen am Anfang. Nicht gewohnt, mit den Medien zu reden, würde sie abschweifen, sich zu lange beim Nebensächlichen aufhalten.
Also, zuerst, da hab ich gar nicht erkannt, wer die Frau ist, die da schreiend auf mich zugerannt kam. Wissen Sie, mein Jacko ist in letzter Zeit ein bisschen schwierig, er hatte im Winter eine Operation am Rücken – deshalb versuche ich immer, vor der Arbeit mit ihm in den Park zu gehen, bevor die anderen Hunde kommen. Also, mein Jacko, der muss zuerst etwas gehört haben, denn plötzlich hat er angefangen wie verrückt zu bellen, und dann ist er los, und ich hab gerufen, aber er hat nicht gehört. Also bin ich hinterher, und da sehe ich, wie diese Frau auf uns zurennt und »Hilfe« schreit. Und da hab ich mir gleich gedacht, dass etwas Schreckliches passiert sein muss, Sie wissen schon – ja, und dann ist es mir endlich gelungen, Jacko an die Leine zu nehmen, weil, so aufgeregt wie der war, da hätte ich meine Hand für nichts ins Feuer gelegt. Und erst, wie diese Frau direkt vor uns ist und immer wieder »Hilfe« ruft und »Victor ist verschwunden«, da erst habe ich erkannt, dass es Frau Simon ist.
Heute Abend würde die Zeugin ihre Geschichte schon besser erzählen, würde die Krankheitsgeschichte des Hundes zwar ausgebaut, aber Tessa schon von weitem erkannt haben.
»Frau Simon.«
Tessa blickte auf. Das Gesicht der Rettungssanitäterin war professionell besorgt. Jetzt erst merkte Tessa, dass sie auf der Liege vor- und zurückwippte, die Zähne fest verbissen in ihre rechte Faust, die linke Hand ums rechte Handgelenk geklammert. Sie ließ von sich ab und zog die Aludecke, die der andere Sanitäter, ein junger Mann mit zu dünnem Haar, ihr vorhin gegeben hatte, enger um die Schultern.
»Ich will nicht ins Krankenhaus.«
Der Sanitäter hatte begonnen, ihre Schürfwunden an den Handballen zu behandeln. Tessa starrte auf seinen Hinterkopf.
Mit fünfunddreißig bist du kahl
, dachte sie. Der Sanitäter schaute kurz zu seiner Kollegin auf, die hatte ihre Hand schon auf Tessas Rücken gelegt.
»Frau Simon, Sie stehen unter Schock. Möglicherweise haben Sie ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Sie müssen ein CT machen lassen.«
Die Sanitäterin hatte Tessa sofort erkannt, als sie im Gras gesessen hatte. Tessa bezweifelte, dass der Sanitäter sie auch erkannt hatte.
»Ich will nach Hause. Bestimmt ist Victor schon zu Hause.«
»Können Sie den Arm bitte etwas ruhiger halten? Danke.«
Tessa schaute dem Mann bei
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