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Die Brut

Titel: Die Brut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Täter mit Victor ja noch irgendwo auf dem Gelände.«
    Tessa nickte. Ein einsamer Rindenkrümel steckte in ihrer Hosentasche.
    »Und dann müssen wir den Tatort sichern. Fühlen Sie sich imstande, uns dorthin zu führen, wo es passiert ist?«
    »Ja.« Sie stand auf. Tapfer. Hielt sich sehr gerade. Der Kommissar öffnete die Hecktüren des Rettungswagens. Das helle Licht blendete sie. Einen Moment glaubte sie, schreiende Massen und Blitzlichtgewitter zu sehen.
    Frau Simon! Schauen Sie her!
    Wie fühlen Sie sich?
    Glauben Sie, dass Sie jemals wieder frei atmen können?
    Wünschen Sie sich nicht zur Hölle?
    »Das können Sie da reinwerfen.«
    »Wie?«
    Die Stimme des Kommissars holte sie zurück. Streifenbeamte hatten das Rasenstück, auf dem der Rettungswagen stand, weiträumig abgesperrt. Es erinnerte sie an die Wagenburgen ihrer Kindheitswestern. Zwischen zwei Streifenwagen riss ein Mann seine Kamera hoch, eine Beamtin verstellte ihm sogleich den Blick. Über ihnen kreiste ein Hubschrauber, von dem Tessa nicht sagen konnte, ob er einem Fernsehteam gehörte, der Polizei, oder ob er zufällig über den Park flog.
    »Die Taschentücher.« Arndt Kramer zeigte auf den offenen Metallpapierkorb, der an der Innenwand des Rettungswagens festgeschraubt war.
    »Ach so. Ja.«
    Der Kommissar war aus dem Wagen ins Gras gesprungen. In der Sekunde, bevor er sich zu ihr umdrehte, zog Tessa die Hand, die sich bereits über dem Papierkorb hatte öffnen wollen, zurück und stopfte die Taschentücher in ihre Hosentasche. Arndt Kramer machte einen Schritt auf den Wagen zu und hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Es war das erste Mal, dass er lächelte.
    Tessa konnte sich nicht erinnern, hier jemals joggen gewesen zu sein. Je tiefer sie den Kommissar und die anderen Polizeibeamten in den Wald hineinführte, desto fremder kam ihr alles vor. Schwarze Bäume streckten die knöchrigen Zweige nach ihr, um ihr die Augen auszukratzen. Ein Blitz hatte den Stamm einer Buche gespalten. In dem Spalt saß ein Tier und lachte. Tessas Schritte wurden schneller. Fremd. Die dunkle Eiche, in deren Krone die riesige Fledermaus hing. Oder war es doch nur ein Regenschirm? Alles fremd. Hinter einer Kurve blieb sie abrupt stehen. Dreißig Meter weiter am Wegrand war etwas Buntes, Rotes. Ein abgestürzter Kinderdrachen? Auf dem Griff saß ein kleiner Vogel, er schaute die Ankömmlinge an und flog davon.
    »Ist das Ihr Buggy?«
    Sie war unfähig etwas zu sagen. Dennoch musste sie genickt haben, der Kommissar stellte die nächste Frage: »Und das ist auch die Stelle, wo der Überfall stattgefunden hat?«
    Diesmal merkte Tessa, wie sie nickte. Langsam. Das Kinn ein wenig senken. Und heben. Senken. Am Rande ihres Blickfeldes sah sie, wie ein uniformierter Beamter mit einer großen Spule in der Hand auf einen Baum zuging. Er zog ein rot-weißes Band von der Rolle und umarmte den schwarzen Stamm.
    »Aus welcher Richtung sind Sie gekommen?«
    Tessa zeigte mit dem Kopf nach links.
    »Gehen Sie hier öfter joggen?«
    Tessa nickte. Wieso war der Wald so schwarz?
    »Laufen Sie immer dieselbe Strecke?«
    Kinn senken. Kinn heben.
    »Zur selben Uhrzeit?«
    Kinn senken. Kinn heben.
    »Haben Sie den Täter gesehen, bevor er Sie angegriffen hat?«
    Tessa hatte bereits das Kinn gesenkt, als sie den Fehler merkte. Sie riss das Kinn nach rechts herum und erstarrte. Der Vogel. Der Vogel auf dem leeren Babyjogger. Schließlich gelang es ihr, »Nein« zu sagen.
    »Ist Ihnen jemand entgegengekommen, haben Sie jemanden am Wegrand gesehen?«
    »Nein.«
    »Der Täter hat Sie also von hinten angegriffen?«
    »Ja.«
    »Haben Sie gehört, dass Ihnen jemand folgt?«
    »Ich bin gelaufen.«
    »Sie haben also nicht gehört, dass Ihnen jemand folgt.«
    Der Beamte mit der Rolle umarmte den nächsten Stamm. Dort, wo sie hergekommen waren, war der Weg jetzt mit dem weiß-roten Plastikband abgesperrt. Ein anderer Beamter hielt einen Jogger an, der um die Kurve gebogen kam. Sie sah, wie dieser mehrmals den Kopf schüttelte.
    Wieso hatte sie nichts gehört? Unter ihren Füßen hatte Kies geknirscht. Ihr Herz hatte gepumpt. Die Erklärung, die ihr vor einer Stunde noch so traumwandlerisch befriedigend erschienen war, kam ihr ganz und gar lächerlich vor. Sie hatte Musik gehört. Einen Walkman aufgehabt. Sie schaute zu dem leeren Babyjogger. Wenn sie sich anstrengte, sah sie die Taschentuchpackung aus dem Staunetz leuchten. Wo war der Walkman jetzt, wenn sie ihn beim Überfall

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