Die Brut
den ihr der Kommissar gereicht hatte. Es war ein Bild von ihr. Schwanger. Im Wintermantel. Vor Studio Sieben. Und neben ihr stand eine Frau mit blondem Pferdeschwanz und rotem, knielangem Mantel. Ebenfalls schwanger.
Sebastian begriff als Erster, auf was sie da starrten.
»Oh, mein Gott.« Er legte die Hand an die Stirn. »Das ist das Foto, das ich damals gemacht habe. Erinnerst du dich? Diese Frau. Nach deiner ersten Sendung im neuen Studio!«
Und jetzt fiel es auch Tessa wieder ein. Das kleine, verhuschte Wesen, das draußen in der Kälte die halbe Nacht auf sie gewartet hatte.
»Ist das –«, sie räusperte sich. »Ist das Susanne Lembertz?«
Der Kommissar nickte.
Dem Bild haftete eine groteske Selbstverständlichkeit an. Zwei Schwestern. Die eine, in Übersee verschollen gegangen, endlich wieder zu Besuch.
Es gab einen kleinen Aufruhr im Zimmer, jeder wollte das Foto sehen, Feli hatte sich halb über Sebastian gelegt, um einen besseren Blick zu erhaschen. Tessas Schädel brummte. Das Kind auf ihrem Schoß war trotz der Aufregung eingeschlafen.
»Nimmst du ihn bitte noch mal?«, sagte sie zu Sebastian. »Ich muss an die frische Luft.«
Die zweite Zigarette war halb heruntergeraucht, als sie hinter sich ein leises Geräusch hörte. Kommissar Kramer stand auf der Schwelle zur Dachterrasse.
»Stört es Sie, wenn ich eine mit Ihnen rauche?«
»Nein. Überhaupt nicht.« Sie machte eine einladende Geste.
Der Kommissar trat neben sie und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche seines Jacketts.
»Dieses Foto«, sagte sie abwesend. »In all den Jahren habe ich mich sicher tausend Mal mit irgendeinem Fan zusammen fotografieren lassen.« Sie schüttelte sich. »Hatten Sie nicht aufgehört?«, fragte sie, als sie sah, dass sich der Kommissar eine Zigarette ansteckte.
»Rückfälle sind meine liebsten Fälle.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Hatten Sie schöne Weihnachten?«
»Das Übliche. Familie. Verwandtschaft.«
Tessa nickte und streifte ihre Aschenspitze in den Aschenbecher, der auf der Brüstung stand.
»Sie aschen immer noch nicht wieder nach unten?«
»Wie?« Tessa schaute den Kommissar an.
»Ich frage mich, warum Sie nach Victors Entführung aufgehört haben, runter auf die Wiese zu aschen.«
»Ich habe nie von der Terrasse runtergeascht. Die Gefahr, dass da unten was brennt, ist doch viel zu groß.«
Der Kommissar lächelte und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
»Wissen Sie, was merkwürdig ist. Die Frau, die wir letzte Woche von der Decke abgehängt haben, war selbst Mutter.«
Tessa machte einen Schritt zur Seite. »Ich dachte, sie hätte die Schwangerschaft nur vorgetäuscht?«
»Der Rechtsmediziner hat festgestellt, dass sie entbunden hat.« Der Kommissar klemmte die Zigarette zwischen seine Lippen und klappte den Jackenkragen hoch. »Es wäre interessant zu wissen, wo dieses Kind geblieben ist, nicht?«
»Vielleicht war es eine Totgeburt. So etwas könnte doch das Trauma bei ihr ausgelöst haben.« Tessa zögerte einen Moment, dann drückte sie ihre Zigarette im Aschenbecher aus.
»Keine schlechte Idee. Aber Susanne Lembertz hat letztes Jahr am 17. August in der Uniklinik einen gesunden Sohn zur Welt gebracht.«
»Vielleicht musste sie ihn zur Adoption freigeben. Sie war doch sicher damals schon krank.«
»Auch nicht schlecht. Das Dumme ist nur, dass wir keine Adoptionsunterlagen haben.«
Tessa griff nach ihrer Zigarettenschachtel. Sie war leer. Der Kommissar hielt ihr seine Zigaretten hin. »Falls Sie die mögen«, fügte er hinzu.
Sein Feuerzeug flammte auf. Schirmend krümmte er seine Hand um die Flamme. Tessa beugte sich zu ihm hin. »Danke.«
Der Kommissar schaute ihr beim Rauchen zu. »Kennen Sie eigentlich das Märchen von der Prinzessin und dem Wolf?«
Sie sah ihn überrascht an. »Nein. Ich glaube nicht. Victor ist ja leider noch nicht in dem Alter, wo ich ihm Märchen vorlesen kann.«
»Ich erzähle Ihnen mal den Anfang, vielleicht kennen Sie es ja doch. Also«, der Kommissar strich sich über den Schnurrbart. »Es war einmal eine Prinzessin, die lebte in einem schönen Schloss. Und sie selbst war auch sehr schön und erfolgreich und hatte alles, was sich eine Prinzessin auf dieser Welt nur wünschen konnte. Sogar ein süßes kleines Kind hatte die Prinzessin. Das liebte sie auch sehr, aber manchmal wollte das Kind einfach nicht aufhören zu schreien. Ganze Nächte schrie es durch, so dass die arme Prinzessin – die ja tagsüber ihren
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