Die Brut
so. Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet der Fuchs dafür zuständig ist.«
Der Mann lächelte und fuhr fort: »Der Fuchs hatte große Zweifel an der Geschichte, die die Prinzessin erzählte. Konnte sie wirklich ohnmächtig gewesen sein? Die Wunde an ihrem Hinterkopf war viel zu klein für einen so heftigen Schlag. Außerdem fand der Fuchs an den Beinen der Prinzessin keine Spuren ihres Sturzes. Als der Wolf ihn aber fragte:
Fuchs, wenn ich die Prinzessin vor Gericht anklage, wirst du dann beschwören, dass sie sich selbst verletzt hat?
– da legte der Fuchs die Stirn in Falten und antwortete:
Ich kann sagen, dass ich es vermute. Beschwören kann ich es nicht
.«
Die Frau verzog ihre Mundwinkel zu einem Grinsen. »Ein sehr fortschrittliches Rechtssystem haben sie in diesem Königreich.«
»Ja, nicht wahr?« Jetzt stieß der Mann ein Lachen aus. »Doch der Wolf hatte ohnehin nicht viel Zeit zu überlegen, ob er die Prinzessin vor Gericht anklagen sollte, denn am nächsten Morgen kam ein Brief. Ein Brief der Kindsdiebin. Und plötzlich sah alles wieder anders aus. Der Wolf stürzte sich auf die neue Fährte, buddelte, wühlte, wochenlang, monatelang –«
»Moment, da verstehe ich etwas nicht«, unterbrach ihn die Frau, die gerade dabei gewesen war, sich eine neue Zigarette anzustecken. »Wieso kam ein Brief von einer Kindsdiebin, wenn das Kind doch gar nicht geraubt worden war?«
»Eine sehr gute Frage.« Der Mann gab der Frau Feuer, obwohl sie ein eigenes Feuerzeug in Händen hielt. »Eigentlich konnte es nur drei Erklärungen für diesen Brief geben. Entweder er stammte wirklich von der Diebin. Oder ein verwirrter Untertan hatte ihn geschrieben, um alle an der Nase herumzuführen. Oder die Prinzessin hat ihn selbst geschrieben.«
»Selbst geschrieben?« Die Frau blies eine lange Rauchwolke aus. »Wie, wann und wo soll sie das denn getan haben? Der Wolf hat die Prinzessin doch sicher rund um die Uhr bewachen lassen, wenn er ihr so misstraute.«
»Richtig. Das hat er. Dennoch ist ihm entgangen, dass die Prinzessin den Schlüssel zu einem benachbarten Schloss hatte. Und dass es in diesem Schloss auch eine von den modernen Kisten gab, mit deren Hilfe sich Briefe schreiben ließen.«
»Hm.«
»Die Prinzessin war wirklich eine sehr, sehr schlaue Frau«, sagte der Mann. »In ihrem Brief genau die Fährte zu legen, die der Wolf am liebsten verfolgen wollte.«
Die Frau verzog das Gesicht. »Also gut, sagen wir, die Prinzessin war so schlau. Aber wie um alles in der Welt konnte es ihr gelingen, den Brief abzuschicken?«
»Über diese Frage zerbrach sich auch der Wolf tagelang den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie den Brief einer Vertrauten mitgegeben.«
Die Frau schüttelte langsam den Kopf. »So, wie Sie die Prinzessin beschreiben, glaube ich nicht, dass sie eine Vertraute hatte.«
»Das hat sich der Wolf auch gedacht«, sagte der Mann, und seine Augen leuchteten. »Aber haben Sie eine andere Idee, wie die Prinzessin den Brief losgeworden sein könnte?«
Die Frau schüttelte weiter den Kopf.
»Dann sage ich Ihnen, was der Wolf schließlich vermutete: Als er die Prinzessin zum Fuchs gebracht hatte, hatte er sie einige Minuten aus den Augen gelassen. Und in jedem Krankenlager des Königreichs gab es kleine gelbe Kästen, in die die Untertanen ihre Briefe werfen konnten.«
Die Frau betrachtete ihre Zigarette, als amüsiere sie deren glatte, gerade Gestalt. »Aber konnte der Wolf denn nicht später am Briefstempel ablesen, dass der Brief in diesem Krankenlager eingeworfen worden war?«
Der Mann zupfte an seinem Schnurrbart. »Dieser Punkt muss der Prinzessin große Sorgen bereitet haben. Aber nein – einige Jahre vor dieser Geschichte waren im ganzen Königreich die Briefzentrumsstempel eingeführt worden. Und deshalb konnte der Wolf nicht feststellen, aus welchem Kasten der Brief genau kam.«
»Aber was ist aus dem Kind geworden?«, fragte die Frau. »Was hat die Prinzessin mit ihm gemacht? Sie wird es doch nicht einfach am Fuße des Turms liegen gelassen und gewartet haben, bis die Geier kamen.«
»Nein, das hat sie nicht. Die Prinzessin war ja kein Unmensch. Ich denke, dass sie es zuerst in einem kühlen Verlies des Schlosses aufgebahrt hat. Und ihm dann eine würdige Bestattung schenkte.«
»Wie das?«
»Sie hat es ins Grab der Troubadourin geworfen.«
Die Frau wischte sich mit der linken Hand über die Wange, als müsse sie ein Insekt verscheuchen. »Wie ist der Wolf zu diesem Verdacht
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