Die Brut
verdoppelte ihre tägliche Joggingstrecke, aus ihrem Schrank suchte sie das älteste Paar Laufschuhe mit den am schlechtesten federnden Sohlen heraus. Wenn sie nicht joggte, rauchte sie, wenn sie nicht rauchte, lag sie in der zu heißen Badewanne. Am liebsten tat sie beides gleichzeitig.
Sebastian machte sich Sorgen. Er war viel zu Hause, die Proben zu seiner nächsten Produktion,
Macbeth
, würden erst im nächsten Jahr beginnen. Dennoch fing er jetzt bereits an, sich auf die Titelrolle, die er schon immer hatte spielen wollen, vorzubereiten. Wenn Tessa in der Wanne lag, hörte sie ihn unten in seinem Zimmer auf- und abgehen und Text lernen. Sie spürte, dass er sich nicht so konzentrieren konnte, wie er sich gern konzentriert hätte. Immer wieder unterbrach er seine Arbeit und fuhrwerkte in der Küche herum – wohl nur, um nicht alle halbe Stunde ins Bad zu gehen und nachzuschauen, ob Tessa schon wieder im zu heißen Wasser lag. Wenn er es doch tat, setzte er sich auf den Wannenrand und schob den linken Ärmel ein wenig hoch, um ihre Brüste zu streicheln. Sie sah, welche Mühe es ihn kostete, sich nichts anmerken zu lassen, wenn seine Hand ins Wasser tauchte. Das erste Mal war er zurückgezuckt und hatte Tessa gefragt, ob sie verrückt geworden sei. Sie hatte geantwortet, dass sie immer das Bedürfnis überkam, zu heiß zu baden, wenn der Winter vor der Tür stand. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und geschwiegen. Er sprach es nicht aus, aber Tessa wusste, dass er dem bevorstehenden Aufstieg zu
Kanal Eins
die Schuld an ihrem Zustand gab. Jedes Mal, wenn er ihr einen leichten Abschiedskuss auf die Stirn drückte und das Badezimmer verließ, beschloss sie, ihm die Wahrheit zu sagen.
Wenn sie nicht joggte, rauchte oder badete, zwang Tessa sich, an den Computer zu gehen. Ihr Händler hatte ihr mitgeteilt, dass sie es zwar noch geschafft hätten, die Daten von der Festplatte zu retten, dass ihrem alten Laptop aber ansonsten nicht mehr zu helfen sei. Der neue, den sie noch am selben Tag gekauft hatte, war orange und weiß und hatte keine Kanten. Er erinnerte sie an ein Spielzeug für Kinder im Vorschulalter.
Die Sendung am letzten Donnerstag war eine Katastrophe gewesen. Sie hatte den neuen Gesundheitsminister zu Gast gehabt, einen Mann, der lieber über sich selbst als über die so genannten Sachthemen redete, mithin der ideale Gast für
Auf der Couch
war. Sie hatte ihre Fragen vom Karteikärtchen abgelesen (
Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie länger als drei Tage krank sind? Vermissen Sie Ihre Mutter, wenn Sie mit Grippe im Bett liegen?
), hatte aufmerksam lauschend den Kopf geneigt und bereits in der Sekunde, in der der Politiker aufhörte zu reden, vergessen, was dieser geantwortet hatte.
Attila war höflich genug gewesen, Tessa lediglich zu sagen, dass es eine
schwierige Sendung
gewesen sei. Sie wusste selbst, dass es nächste Woche besser werden musste. Die Verträge mit
Kanal Eins
waren perfekt. Am zweiten Donnerstag im neuen Jahr sollte es losgehen. Sie musste beweisen, dass sie keine von den Tontauben war, die ein ehrgeiziger Produzent in die Luft schoss, damit die Öffentlichkeit was zum Abknallen hatte. Ihr Aufstieg würde andauern. Sie würde oben bleiben. So lange, bis ihr Blick sich an das neue Panorama gewöhnt und den nächsten Gipfel gefunden hatte.
Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder zerflossen die Wörter und Sätze, die der eine oder andere Politiker gesagt haben mochte oder auch nicht, versank der Computer im Ruhezustand. Tessas Blick verschwamm, und plötzlich tauchten auf dem schwarzen Bildschirm die weißen Wolken und Wirbel auf, die sie auf dem Monitor bei Doktor Goridis gesehen hatte. Die Wolken und Wirbel verschoben sich, pulsierten, und plötzlich war da der kleine weiße Punkt, den die Ärztin ihr gezeigt hatte.
Sehen Sie?
Ja. Sie hatte den kleinen weißen Punkt gesehen. Aus den Broschüren, die die Männer und Frauen mit den dicken Brillengläsern verteilt hatten, wusste sie, dass der Punkt nun bald einen Schwanz und Kiemen bekommen würde. Und dann die Finger, die Nase, die Ohren, täglich mehr, das volle Programm. Aber so sehr Tessa auch in sich hineinlauschte, sie spürte nichts. In ihrem Unterleib fand eine Zellexplosion statt, seit vier Wochen teilte sich diese eine Eizelle, mit der alles begonnen hatte, inzwischen mussten es Millionen von Zellen sein, die sich in jeder Sekunde jede für sich wieder teilten, und Tessa spürte nichts. Freitagmorgen hatte
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