Die Brut
Bad. Tessa hörte die Klospülung rauschen. Sebastian warf benutzte Papiertaschentücher immer ins Klo, nie in den Abfall.
»Gibt es irgendetwas, das du heute gern machen würdest?«, fragte er, als er zurückkam.
»Au ja. Prima«, sagte Tessa. »Lass uns in den Zirkus gehen. Oder doch lieber in den Zoo?«
Er trat ans Fenster. Sie fuhr mit dem rechten Zeigefinger den Rand der Tasse nach. »Es tut mir Leid. Ich hab das nicht so gemeint.« Ihre Finger konnten nicht aufhören. Das Porzellan machte keinen Ton, es war zu dick. »Ich will doch nur wissen, wie es weitergeht«, sagte sie leise.
Jetzt im Morgenlicht war sie noch sicherer, dass die Leberflecken auf Sebastians Rücken den Kleinen Bären bildeten.
»Du hast dich doch schon entschieden«, sagte er, seine Stimme klang rau.
»Das ist nicht wahr.«
»Du willst das Kind nicht haben.«
Sie schwieg.
»Wie weit bist du?«
»In der fünften Woche«, sagte sie.
»Dann ist es ja noch Zeit.«
Sie nickte.
»Seit wann weißt du es?«
»Seit drei Tagen.«
Die Lüge war so offensichtlich, dass er es für unwürdig erachtete, zu widersprechen. »Wen hast du vorhin angerufen?«
»Feli«, sagte sie. »Ich habe versucht, Feli zu erreichen.«
Eine Wespe flog durch das gekippte Fenster ins Zimmer.
»Warum hast du es mir erst letzte Nacht gesagt?«
»Ich habe dir doch gesagt, ich weiß es erst seit drei Tagen.«
»Tessa. Was willst du von mir hören?« Sebastian drehte sich um. Die Tasse klirrte, als er sie auf dem Untersetzer abstellte.
»Ich will mit dir darüber reden, wie es weitergeht.«
»Du hast dich doch längst entschieden.«
»Das ist nicht wahr.«
»Du willst das Kind nicht bekommen. Ich verstehe das. Dein Leben wird in der nächsten Zeit anstrengend genug. Auch ohne Kind.«
»Würdest du denn das Kind bekommen wollen?«
»Ich sage doch: Ich verstehe, dass du jetzt kein Kind brauchen kannst. Hast du schon einen Termin ausgemacht?«
Tessa ließ sich auf das feuchte Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Zum ersten Mal seit Tagen sah sie nicht das Tiefseebild. Sie sah, wie sie abends allein in dem Dreihundert-Quadratmeter-Loft saß. Sie sah, wie sie allein durch Einrichtungshäuser zog, um die Möbellücken aufzufüllen, die Sebastians Auszug gerissen hatte.
»Es ist verrückt. Carola wollte unbedingt Kinder haben. Ich war immer dagegen.« Sebastian schaute wieder nach draußen. Die Wespe war zur nächsten Fensterscheibe geflogen.
»Warum?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht war sie die falsche Frau.«
Tessa sah, wie sich seine Schulterblätter hoben und senkten. »Ich glaube nicht, dass es an Carola lag«, sagte sie. »Dein Beruf war der Grund. Dein Beruf ist dir das Wichtigste. Wir haben von Anfang an darüber geredet, dass wir beide Menschen sind, denen der Beruf das Wichtigste ist.«
Zum zweiten Mal das winzige Auf und Ab der beiden Schulterblätter. In der Bewegung lagen mehr Trauer und Zweifel, als bei den meisten Menschen im Gesicht Platz hatten.
Sebastian drehte sich um, schaute sie an, und sie sah eine Wut, die sie bei ihm noch nie gesehen hatte. Er stürzte auf sie zu, sie riss die Arme hoch, schützend, dachte, er wolle sie schlagen. Aber er vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Die ganze Nacht, während Tessa die Kissen getränkt hatte, hatte er still neben ihr gelegen, hatte ihren Rücken gestreichelt, hatte sie gehalten, ohne eine einzige Träne zu vergießen. Jetzt weinte er, wie sonst nur ein Dreijähriger weinen konnte.
»Bekomm das Kind. Tessa. Bitte. Bekomm das Kind. Ich will ein Kind mit dir haben.«
3
Im Verlauf der Evolution und mit der Entwicklung des aufrechten Gangs beim Menschen hat sich auch seine Beckenform verändert. Zwar ist das knöcherne Becken der Frau heute immer noch breiter als das des Mannes, doch hat sich der Raum, in dem sich das ungeborene Kind befindet, deutlich verkleinert. Hinzu kommt, dass sich das Gehirn eines ungeborenen Kindes sehr schnell entwickelt und sein Kopf in Relation zum Körper daher sehr groß ist. Diese beiden evolutionär bedingten Faktoren treffen bei der Geburt aufeinander: Es besteht ein ungünstiges Verhältnis zwischen Beckenbreite der Frau und Größe des Kopfs eines Ungeborenen. Dies führt dazu, dass die Geburt eines Menschen – im Vergleich zu anderen Spezies – eher langwierig und manchmal auch komplikationsreich ist.
Tessa stellte das Buch ins Regal zurück. Instinktiv fuhren ihre Hände dorthin, wo sie selbst unter dem dicken Parka die Beckenknochen spüren
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