Die Brut
»Hast du was gesagt?« Er wischte sich mit einer verschlafenen Hand über die Stirn. »Entschuldige. Ich hab schon –«
»Ist okay. Schlaf nur weiter.«
Sie tätschelte seinen Rücken, und nach einigen Augenblicken hörte sie, wie sein Atem schwerer wurde und in leises Schnarchen überging.
Es war ein Fehler gewesen. Was hatte sie sich dabei gedacht? Sie musste es allein durchstehen. Welch eine Idiotie zu glauben, Sebastian könnte ihr helfen. Es war ihre Entscheidung, sie musste sie allein fällen. Nein, das stimmte nicht, die Entscheidung hatte sie ja bereits gefällt, jetzt musste sie es nur noch durchstehen, und kein Mensch auf dieser Welt …
»Was ist denn?« Sebastian fuhr in die Höhe. Er packte Tessa an den Handgelenken. Da erst merkte sie, dass sie mit beiden Fäusten auf ihn einschlug.
»Tessa – Tessa!«
Ihre Fäuste beruhigten sich, und er lockerte den Griff um ihre Handgelenke. Das Blut rauschte in ihren Ohren wie ein Gebirgsbach. Sebastian drehte sich zur Seite, um die Nachttischlampe anzuknipsen.
»Nicht«, sagte sie. Sie spürte, wie sich das Zeitfenster schloss, gleich würde Sebastian ihr in die Augen schauen und die Wahrheit aus ihr herausschütteln wollen, gleich würde sie an ihm vorbeischauen, bis sie es nie wieder über die Lippen brachte, und der Abgrund, der sich zwischen ihnen in den letzten Tagen aufgetan hatte, würde wachsen, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie beide in diesen Abgrund stürzten.
»Nicht«, sagte sie und legte ihre Hand auf seine, die bereits nach dem Lichtschalter gefasst hatte. »Ich bin schwanger.«
Tessa ließ sich aufs Kissen fallen und zählte die Sekunden, bis die Explosion kam, die alles auslöschte. Sie waren zwei Planeten in einem Kosmos, der sich in diesem Augenblick neu ordnete, ihre Bahnen hatten sich gekreuzt, ihre Bahnen waren parallel verlaufen,
vielen Dank, schön war’s gewesen, wunderschön
, aber jetzt war es vorbei.
Kein Nikotin-Alkohol-Kater glich dem Kater nach einer durchheulten Nacht. Tessa fühlte sich leer und umgestülpt, als sie um kurz nach sieben auf den Wecker schaute. Sebastian neben ihr schlief noch. An seinem linken Mundwinkel klebte getrockneter Speichel. Zum ersten Mal dachte sie, dass er nicht jünger, sondern tatsächlich wie Ende vierzig aussah. Sie küsste die Innenseite seines Handgelenks, die weiß und verletzlich auf der Bettdecke lag.
Tessa schlich in die untere Etage und ging mit dem schnurlosen Telefon ins Gästebad. Sie rief in der Praxis von Doktor Goridis an und sagte, dass sie heute leider nicht kommen könne, sich wegen des neuen Termins aber so bald wie möglich melden würde. Die Schwester am anderen Ende der Leitung war sehr freundlich. »Aber selbstverständlich, Frau Simon. Das ist doch ganz normal.«
Als Tessa aus dem Bad kam, stand Sebastian in der Küche und kochte Kaffee.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen.«
Er hatte den Kimono an, den sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Es war ein wunderschönes Stück aus schwarz-rot gemusterter Seide. Den Kimono hatte sie in dem Laden, in dem sie ihre Unterwäsche kaufte, lange, bevor sie sich in Sebastian verliebt hatte, entdeckt. Jedes Mal, wenn sie dort war, hatte sie einen Abstecher in die Herrenabteilung gemacht, nur um zu sehen, ob der Kimono noch da hing. Und jedes Mal, wenn sie die schwere Seide anfasste, hatte sie geschworen, ihn dem ersten Mann, den sie wirklich liebte, zu kaufen.
»Frierst du nicht?«, fragte Tessa. »Du hast ja gar nichts an den Füßen.«
Die Maschine aus glänzendem Edelstahl begann zu gurgeln. »Willst du nicht wieder ins Bett?«, fragte er. »Ich bring den Kaffee mit nach oben.«
Obwohl die Galerie ein hoher offener Raum war, roch es muffig. Tessa öffnete eins der Fenster und verkroch sich unter der Bettdecke. Ihr Kopfkissen war noch immer feucht.
»Möchtest du vielleicht lieber einen Orangensaft?« Sebastian kam mit zwei Tassen und der Thermoskanne die Treppe hoch.
»Danke. Kaffee ist prima.«
Sebastian setzte sich auf die Bettkante und schenkte eine Tasse ein.
»Ist Kaffee nicht ungesund in … in …«
»In was?« Tessas Stimme klang schärfer, als sie es gewollt hatte.
Er reichte ihr die Tasse, aus der sie sofort einen großen Schluck trank. Sie verbrannte sich die Zunge. Sie schaute Sebastian dabei zu, wie er mit einem Papiertaschentuch zuerst den Boden der Thermoskanne und dann den dunklen Ring abwischte, den die Thermoskanne auf dem Nachttisch hinterlassen hatte. Er ging ins
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