Die Brut
sie im Gemüseladen darauf gewartet, an die Reihe zu kommen, und plötzlich war ihr Blick auf die dicken, fast schwarzen Brombeeren gefallen. Ohne etwas zu kaufen, war Tessa aus dem Geschäft gerannt.
Dünne Mädchen warfen Reifen und Bänder und Keulen und bemühten sich, ununterbrochen zu lächeln. Das Textband verriet ihr, dass es sich um die Europameisterschaften in Rhythmischer Sportgymnastik handelte. Den ganzen Abend lag sie schon vor dem Fernseher, sinnlos durch die Kanäle zappend. Sebastian war von einem Abendessen mit dem Regisseur, der im nächsten Jahr den
Macbeth
inszenieren würde, spät nach Hause gekommen und gleich ins Bett gegangen. Tessa hatte ihn gefragt, ob es ein schöner Abend gewesen sei, und hatte sich sofort dafür geschämt, weil es so falsch geklungen hatte, so beleidigt, so kleinlich, so unwürdig.
Doktor Goridis hatte ihr gesagt, sie müsse vor dem Eingriff morgen keine Angst haben. (Nachdem einmal ausgesprochen war, worum es ging, vermieden alle Seiten, das Wort
Abtreibung
zu verwenden.) Tessa hätte am liebsten die Tablette genommen, die die Französinnen schon lange und jetzt auch die Deutschen nehmen durften. Bei dieser Gelegenheit war ihr zum ersten Mal aufgefallen, wie sonderbar es war, dass es die
Deutsche
hieß und nicht die
Deutschin
– alle hatten sie im Deutschen eine eigene weibliche Form: die Polin, die Finnin, die Tschechin, die Schweizerin, die Kanadierin, die Armenierin und sogar die Monegassin, nur die Deutsche selber nicht. Aber Doktor Goridis hatte ihr zum Absaugen geraten. Im frühen Stadium der Schwangerschaft sei dies die schonendste Methode. Außer einem leichten Ziepen würde Tessa nichts spüren, und wenn alles gut ging, konnte sie die Praxis nach einer Stunde wieder verlassen.
Auf dem Bildschirm erschien jetzt ein sehr junges Mädchen mit einem langen bulgarischen Namen, von dem der Kommentator sagte, dass es bereits eine große frauliche Ausstrahlung habe. Das Mädchen lächelte in die Kamera, die Pailletten auf seinem Trikot glitzerten, der Ball flog in die Luft, das Mädchen verdrehte sich am Boden wie eine Geschenkschleife und fing den Ball mit dem rechten Fuß wieder auf.
Als Tessa ins Bett ging, atmete Sebastian bereits tief und regelmäßig. Sie strich ihm eine Strähne aus der Stirn und küsste ihn. Doktor Goridis hatte ihr empfohlen, nach dem Eingriff mindestens eine Woche lang auf Sex zu verzichten. Und mittlerweile war es bereits die fünfte Nacht, die Sebastian und sie nebeneinander lagen, ohne miteinander zu schlafen. Tessa wusste nicht, unter welchem Vorwand sie eine weitere Woche ohne Sex durchhalten sollte. Für die nächsten Tage hatte sie eine Lösung gefunden. Sie hatte Sebastian erzählt, dass sie morgen für zwei Tage in die Stadt fliegen müsse, in der
Kanal Eins
seinen Hauptsitz hatte. Tatsächlich hatte sie letzte Woche gleich nach dem Besuch bei Doktor Harms ein Zimmer im
Hilton
reserviert. Aus Versehen hatte sie den Zettel mit der Telefonnummer auf dem Couchtisch liegen lassen. Sebastian hatte ihn entdeckt und gefragt, was sie im
Hilton
wollte. Sie hatte ihm gesagt, eine alte Schulfreundin käme für ein paar Tage in die Stadt, für die habe sie im Hotel angerufen. Sebastian hatte sich mit dieser Erklärung – Tessa hatte keine alten Schulfreundinnen, und selbst wenn sie welche gehabt hätte, wären diese sicher nicht im
Hilton
abgestiegen – zufrieden gegeben. Sie war in ihr Zimmer gegangen und hatte geheult.
Das Mondlicht war hell genug, dass sie die Leberflecken auf Sebastians Rücken zählen konnte. Es waren sieben. Es war ihr noch nie aufgefallen. Und sie war auch nicht besonders firm in Sachen Sternbilder, trotzdem war sie sicher, dass die Leberflecken zwischen Sebastians Schulterblättern den Kleinen Bären bildeten. Eine tiefe Rührung überkam sie. Tausend Nächte wollte sie noch mit diesem Rücken auf der Dachterrasse verbringen. An tausend Orte fahren. Tausend Mal im Stau stehen. In tausend Restaurants zähe Pizza essen. Bei tausend Hunderennen aufs falsche Windspiel setzen. Sie küsste ihn, bis sich ihr Magen zu einer kleinen harten Kugel zusammengeballt hatte.
Sag es! Los!
Eins … zwei … drei …
Bei achtundvierzig wusste sie, dass sie bis zum Morgengrauen zählen würde. Sie bohrte ihre Fingernägel in den Bauch und flüsterte: »Ich bin schwanger.«
Sebastian machte eine schwache Bewegung.
Sie schloss die Augen. »Ich bin schwanger«, flüsterte sie noch einmal.
Sebastian drehte den Kopf in ihre Richtung.
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