Die Brut
Ihre Mutter musste geantwortet haben, etwa:
Abtreibung heißt, dass eine Frau das Baby, das in ihrem Bauch wächst, wegmachen lassen will
, denn Tessa hatte als Nächstes gefragt:
Und warum will die Frau das Baby wegmachen lassen?
–
Vielleicht weil sie traurig ist. Oder kein Geld hat. Oder ihr Mann sie nicht mehr liebt.
–
Und wo kommt das Baby hin, wenn die Frau es weggemacht hat? Kommt es in den Kindergarten?
–
Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich kommt es in den Himmel.
Mit ihrem fünfjährigen Verstand hatte Tessa zu ahnen begonnen, dass Abtreibung etwas Böses war, und dass die Menschen hinter dem Tisch dafür kämpften, dass dieses Böse nicht getan wurde. Trotzdem hörten die Männer und Frauen mit den beigen Pullundern, dicken Brillengläsern und schlechten Schuhen nicht auf, ihr Angst zu machen.
»Ich kann das Kind nicht bekommen.« Tessa war dankbar, dass der Ledersessel, auf dem sie saß, Armlehnen hatte.
Der Mann mit der halbmondförmigen Lesebrille, der ihr gegenübersaß, lächelte. »Warum glauben Sie das?«
Doktor Goridis hatte sie hierher geschickt. In einem Anfall von Panik hatte Tessa sich noch auf dem Untersuchungsstuhl auszumalen begonnen, wie es sein würde, in einem schäbigen Wartezimmer zu sitzen inmitten all der minderjährigen Mädchen, die von ihrem Vater geschwängert worden waren, der jungen polnischen Ehefrauen, die kein Wort deutsch sprachen und von ihren Männern finster an der Hand gehalten wurden, als Doktor Goridis sie beruhigte. Sie musste zu keiner öffentlichen Einrichtung. Es gab auch private Ärzte, bei denen sie die Pflichtberatung machen konnte. Nein. Sie selbst sei leider nicht berechtigt. Aber Doktor Harms sei ein freundlicher und absolut vertrauenswürdiger Kollege, den sie nur empfehlen konnte.
Tessa nahm die Hände von den Armlehnen. Ihre Handflächen schwitzten. Sicher waren ihre Hände nicht die ersten, die auf diesen Armlehnen geschwitzt hatten. »Ab Januar soll meine Sendung auf
Kanal Eins
laufen. Ich habe keine Zeit für ein Kind.«
»Leben Sie in einer festen Beziehung?«
»Ja.«
»Wäre es denkbar, dass Ihr Partner sich um das Kind kümmert?«
»Mein Partner ist Schauspieler. Er hat auch keine Zeit.« Tessa ärgerte sich, dass sie die alberne Vokabel nachgeplappert hatte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Mir ist schon klar, dass Sie versuchen müssen, mich doch noch umzustimmen. Aber meine Entscheidung steht fest.«
Doktor Harms schüttelte nachsichtig den Kopf. »Ich frage Sie nicht, weil ich es muss. Ich frage Sie Ihretwegen.«
Tessa blinzelte einen Moment verwirrt. »Irgendwann später will ich ja vielleicht ein Kind bekommen. Aber nicht jetzt.«
Doktor Harms schaute auf die Karteikarte, die vor ihm lag. »Sie sind dieses Jahr dreiunddreißig geworden.«
»Ja.«
»Sie wissen, dass aus rein medizinischer Sicht mit fünfunddreißig das Alter der Risikoschwangerschaften beginnt.«
Tessas Hände sprangen zu den Lehnen zurück. »Ich bin keine Mutter. Schon als Kind habe ich es gehasst, mit Puppen zu spielen.« Sie hielt inne. Es brachte nichts, wenn sie sich aufregte. »Vielleicht würde ich das Kind ja bekommen wollen, wenn es eine Schildkröte würde. Kassiopeia habe ich immer mit Hingabe gefüttert«, sagte sie und versuchte es lustig klingen zu lassen.
»Haben Sie mit Ihrem Partner über die Entscheidung gesprochen?«
»Ja. Mein Freund ist absolut meiner Meinung.«
Sie sah ihm an, dass er ihr nicht glaubte.
»Sie wissen, dass ein erheblicher Prozentsatz Frauen nach dem Abbruch zu Depressionen neigt.«
»Ich habe einen Beruf, der mich glücklich macht. Ich lebe mit einem Mann zusammen, den ich liebe. Ich werde keine Depressionen bekommen.«
Doktor Harms rollte mit seinem Drehstuhl zurück, öffnete eine Schublade und zog ein behördlich aussehendes Blatt heraus.
»Gut. Wenn Sie sich in allen Punkten so sicher sind, dann werde ich Ihnen jetzt die Beratungsbescheinigung ausstellen. Der Ordnung halber möchte ich Sie darauf hinweisen, dass laut Gesetzgeber in Ihrem Fall, wo es keine dringende soziale Indikation gibt, der Abbruch nicht legal ist, nach dem heutigen Gespräch jedoch straffrei bleibt. Wird Doktor Goridis den Eingriff vornehmen?«
Tessa nickte.
»Dann hat Sie Ihnen ja sicher gesagt, dass zwischen diesem Gespräch und dem Eingriff mindestens drei Tage liegen müssen.«
Tessa nickte wieder. Es kam ihr so vor, als ob Doktor Harms’ Brillengläser in den letzten zwanzig Sekunden deutlich dicker geworden wären.
Tessa
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