Die Brut
höher. Tessa hörte, wie es aus der linken Kabine plätscherte. Sie wartete. Wenige Minuten später kam die Turbanfrau heraus, ging ans Waschbecken und begann, ihre zu einem dünnen Bogen gezupften Brauen mit einem Kajalstift nachzuziehen. Tessas und ihre Augen trafen sich im Spiegel. Die Turbanfrau tat so, als ob sie Tessa nie zuvor gesehen hätte. Aus dem Handtuchspender hing ein schmutziger Stoffstreifen bis auf den Boden.
»Richten Sie Carola herzliche Grüße von mir aus«, sagte Tessa. »Sie soll aufhören, mich am Telefon zu belästigen.«
Die Turbanfrau lüpfte eine der neu gemalten Augenbrauen. »Ich kenne keine Carola.«
»Unsinn. Carola hat Sie hergeschickt, damit Sie mich ausspionieren.«
Keine Antwort.
»Wieso haben Sie heute Abend neben mir gesessen?«
Die Turbanfrau machte einen Schritt vom Spiegel zurück und betrachtete sich. Aus ihrer Handtasche holte sie einen Lippenstift hervor.
»Weil ich die Karte von einer Kollegin bekommen habe«, nuschelte sie, während sie ihre Lippen in grellem Rosa auffrischte.
»Und warum? Weil Carola Sie gebeten hat, mich auszuspionieren.«
Die Turbanfrau schien zufrieden mit ihrem Werk. Sie klappte ihre Handtasche zu, drehte sich um und schaute Tessa direkt in die Augen. »Eine Bekannte von mir, die war letztes Jahr schwanger. Ab dem fünften Monat hat sie geschworen, Satanisten wollten sie entführen.«
Der sechste Juni begann mit Regen. Tessa hörte zu, wie die Tropfen in unregelmäßigem Rhythmus gegen die Scheiben schlugen. Sie musste an ihre Kindergeburtstage denken, an denen es auch fast immer geregnet hatte. Wie oft hatte sie am Fenster gestanden, die Lampions zusammengefaltet auf dem Küchentisch, die Würstchen im Kühlschrank, und hatte in den nassen Garten hinausgeschaut.
Aprilkind
hatte ihre Mutter sie manchmal genannt.
Mein Aprilkind.
Erst viele Jahre später hatte Tessa verstanden, dass ihre Mutter damit weniger ihr Geburtsdatum am 29. April als ihre grenzenlose Fähigkeit, in wenigen Sekunden von Weinen auf Lachen auf Weinen umzuschalten, gemeint hatte.
Ein kurzer Blick verriet Tessa, dass Sebastian noch schlief. Sie wälzte sich mühsam auf die andere Seite und setzte ihre Füße auf den Boden. Obwohl noch eineinhalb Stunden Zeit waren, bis der Fahrer kam, hielt sie es nicht mehr aus im Bett. Ihr Atem ging schwer von der lächerlichen Anstrengung des Aufsetzens.
Das letzte Mal
, dachte sie, während sich ihr Atem langsam beruhigte.
Das letzte Mal, dass ich mit dir im Bauch aus dem Bett steige
.
Die ganze Nacht hatte sie auf der Lauer gelegen. Und das merkwürdige Gefühl gehabt, dass ihr Kind dasselbe tat. So als ahnte es, dass es bald in die Welt geschnitten werden sollte. Was hätte sie getan, wenn ihr Kind ihr vorzeitige Wehen geschickt hätte, um den geplanten Kaiserschnitt zu verhindern? Immer wieder, sobald ihr die Augen zugefallen waren, hatte Tessa sich im Taxi gesehen, halb sitzend, halb liegend, unterwegs in die nächstbeste Klinik, mit absurden Schmerzen und einem Fahrer, der noch lauter fluchte, als sie schrie, während sich die Rückbank des Taxis langsam rot färbte. Zum dritten Mal in fünf Minuten schaute Tessa auf den Wecker. Sie legte ihre Hand auf den Bauch und fuhr in sanften Kreisen darüber.
»Guten Morgen.« Sebastian setzte sich auf. Seine Stimme klang belegt, Schläfrigkeit vermischt mit Aufregung. »Wie geht es dir?«
»Gut.«
»Ich bewundere dich. Dass du so ruhig bist.« Er strich sich über die Bartstoppeln. »Ich glaube, ich hab die ganze Nacht nicht richtig geschlafen.«
Tessa lächelte.
»Soll ich dir einen Tee machen?« Er küsste sie auf den Mund. Seine Lippen schmeckten süß. Als hätte er Marmelade gegessen in der Nacht. Ein Croissant mit Himbeermarmelade.
Tessa schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass ich nicht mal mehr was trinken darf.«
»Natürlich. Gott. Ich bin aufgeregter als vor drei Premieren gleichzeitig.« Sebastian ließ sich aufs Kissen zurückfallen, aber nur, um gleich wieder in die Höhe zu schnellen. Er schaute zu dem Alukoffer, der am Treppengeländer stand. »Bist du sicher, dass du nichts vergessen hast? Den Bademantel? Die Hausschuhe? Und diese BHs, die wir noch gekauft haben?«
Sie hatte sich getäuscht. Heute war nicht Kindergeburtstag. Heute war Wandertag.
Tessa, hast du die Stullentüte eingesteckt? Und solltet ihr nicht Badesachen mitnehmen?
»Entschuldige.« Sebastian nahm ihre Hand. »Ich benehme mich mal wieder wie ein Trottel.«
Um zehn vor sechs klingelte
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