Die Brut
kleinen Stich.«
Konzentrier dich. Dein Kind. Es wird ihm gut gehen. Das ist das Einzige, worauf es jetzt ankommt.
Tessa spürte, wie sich ihr Rücken verkrampfte.
Sein Herz. Es schlägt so schnell. Es muss doch viel langsamer schlagen nachher, wenn er draußen ist. Eine Vollbremsung. Ich mute meinem Kind eine Vollbremsung zu
.
Ein Stich. Die Betäubung vor der eigentlichen Betäubung. Sie hatten alles besprochen. Es geschah alles nach Plan. Tessa spürte, wie sich die Nadel aus ihr zurückzog.
»So. Jetzt müssen wir einen Moment warten. Alles in Ordnung?«
Tessa nickte. Obwohl ihre Hände immer noch eiskalt waren, begann sie unter der Plastikhaube, die man ihr über die Haare gezogen hatte, zu schwitzen. Sie konnte jetzt niemanden bitten, sie auf dem Kopf zu kratzen, Elena musste überwachen, dass es ihrem Kind gut ging, der Arzt und die Schwester hatten alle Hände voll mit der Vorbereitung des Narkosekatheters zu tun. Wo blieb Sebastian? Sie fühlte sich so hässlich unter der Haube. Nie benutzte sie eine der Duschhauben, die in Hotelbadezimmern herumlagen.
»Spüren Sie das?«
In ihrem Rücken begann es zu kribbeln. Dasselbe Gefühl wie beim Zahnarzt, wenn sich die Nerven verabschiedeten. Ihr Unterkörper verlor seine Konturen, begann sich ins Formlose auszudehnen.
Ich bin der Märchenbrei
, dachte Tessa.
Der Märchenbrei, der immer weiter aus dem Topf quillt, bis er die ganze Welt unter sich erstickt hat.
»Ein bisschen.«
»Gut. Dann warten wir noch einen Augenblick.«
Alles geschah nach Plan.
Wumm. Wumm.
Das Herz ihres Kindes. Das trockenere elektronische Klopfen, das ihr eigener Puls sein mochte. Oder ihr Sauerstoff. Oder ihr Blutdruck. Die Manschette an ihrem Oberarm blies sich auf.
»Haben Sie das eben auch noch gespürt?«
Tessa drehte den Kopf. Sie sah die Nadel, die der Narkosearzt in der Hand hielt.
Gebt mir eine Vollnarkose. Macht mich weg
.
»Nein. Ich glaube, Sie können weitermachen.«
»Gut. Dann setze ich jetzt den Katheter. Wenn Sie die Beine bitte anziehen. Je mehr Katzenbuckel Sie machen, desto leichter wird es.«
Alles besprochen. Alles Routine. Hundert Mal gemacht von diesem Mann. Der Beste seines Faches. Alle hier in dieser Klinik. Nur Profis. Sie hatte es sich am Modell zeigen lassen. Hatte gesehen, wie die Nadel mit dem Plastikkatheter zwischen zwei Wirbeln in den Spinalraum geschoben wurde.
Du kannst nichts spüren. Deine Nerven sind weit weit fort. Machen Urlaub auf Hawaii.
Ihr Unterkörper schwoll immer weiter an.
Wumm. Wumm. Wumm
.
Lähmungsdiagnostik beim Hund
.
Du spürst nichts. Alles wird gut.
»Entschuldigung. Ich glaube, mir wird schlecht.«
Vier besorgte Gesichter schauten auf Tessa herab, als sie die Augen öffnete. Der Mond hatte drei Nebenmonde bekommen. Der bleichste von allen trug einen grünen Mundschutz. Es war der Lampion, den sie an ihren verregneten Kindergeburtstagen nie im Garten hatte aufhängen dürfen.
»Sie hatten einen kurzfristigen Blutdruckabfall. Das kann passieren, wenn wir damit beginnen, die Narkosemittel einzuleiten. Gleich wird es Ihnen wieder besser gehen.«
Jetzt erst erkannte Tessa, dass der Lampion Sebastian war. Sie schaffte es zu lächeln. Die Schwester kam mit einem feuchten Lappen und wischte ihr über den Mund.
»Sie können den Mundschutz gern noch einmal runterziehen, solange wir nicht im OP sind«, sagte sie zu Sebastian.
»Möchten Sie ein Glas Wasser zum Spülen?«
»Gern.«
Tessa nahm den Plastikbecher. Sie konnte sich nicht aufrichten. Das meiste Wasser lief ihr seitlich aus dem Mund, bevor sie gurgeln konnte.
»Danke.«
»Das kommt leider vor. Wenn die Übelkeit nicht besser wird, können wir Ihnen nachher, kurz bevor wir mit dem Eingriff beginnen, etwas dagegen geben.«
Sebastians Augen waren sehr groß und sehr dunkel, als er sich endlich traute, nach Tessas Hand zu fassen.
»Nächsten Sommer machen wir ein Picknick am See«, sagte er.
Sie war im Zirkus. Die Akrobatin, deren Oberschenkel festgeschnallt waren. Die Frau ohne Unterleib. Die Frau, die der Zauberkünstler gleich zersägen würde. Eine Gehilfin hängte ein Tuch vor Tessas Gesicht, sodass sie selbst vom magischen Akt nichts sehen konnte. Alles in diesem Zirkus war grün. Die Kacheln, das Tuch vor ihrem Gesicht, die Kittel und Masken und Hauben. Schon konnte Tessa nicht mehr unterscheiden, wer Magier, wer Lehrling war. Elena? Nicht mehr zu erkennen. Sebastian war auf ihrer Seite des Tuchs geblieben. Der Clown, der der Akrobatin die Hand
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