Die Buchmagier: Roman (German Edition)
solchen Dingen, wenn sie größer werden – meine Tagträume waren nur komplexer geworden. Auf der Oberschule konnte ich keiner Geschichtsstunde folgen, ohne mich zu fragen, wie Batman die Ermordung Erzherzog Ferdinands vereitelt hätte oder ob ein einzelner Zeitreisender mit einem Laser und einer hochentwickelten Rüstung den Verlauf der Schlacht am Chickamauga hätte ändern können.
Man stelle sich vor, sein ganzes Leben damit zuzubringen, sich nach dieser Art von Zauberei zu sehnen, nur um dann zu entdecken, dass sie real ist!
Man stelle sich vor, dass, wie so vieles andere, diese Zauberei zu entdecken seinen Preis hat. Regeln und Grenzen und alte Männer, die einem über die Schulter sehen. Ebenso gut könnte man ein Kind an Heiligabend ins Wohnzimmer führen, ihm einen Berg glänzender Geschenke zeigen und ihm sagen, dass es aber nur drei öffnen darf, sonst wird der Weihnachtsmann es verprügeln und in seinen eigenen Strumpf stecken.
Ich lernte, dass ich nie wirklich der Superheld hatte sein wollen. Oh, ich hatte es mir ausgemalt, gewiss. Als Kind hatte ich daran gedacht, die Schlägertypen zu verspotten und dann zu lachen, wenn sie sich Fäuste und Füße an meinen steinharten Muskeln verletzten. In der neunten Klasse entwarf ich ein Szenario nach dem anderen, in denen meine Kräfte mir ermöglichten, Jenny Johnson aus diversen Gefahren zu erretten … und wie sie ihrer Dankbarkeit Ausdruck verleihen mochte, wenn ich sie erst einmal in Sicherheit geflogen hätte.
Aber was ich wirklich wollte, wovon ich als Erwachsener träumte, war die Zauberei selbst. Ihre Gesetze zu verstehen, ihr Potenzial … Ich hatte unter mehreren Forschern bei den Pförtnern studiert, aber man konnte selbst kein voller Forscher werden, ohne zuerst seine Zeit im Außendienst abzuleisten. Und im Außendienst konnte man nicht arbeiten, wenn man die Gewalt über die eigene Zauberei verlor.
Ein lautes Hupen riss mich aus meinen Gedanken: Die Ampel war grün, und ich hatte es nicht gemerkt. Die Wärme stieg mir ins Gesicht, als ich schnell über die Kreuzung fuhr und dem Fahrer hinter mir eine Entschuldigung zuwinkte.
Auch nach zwei Jahren konnte ich Nicola Pallas’ Worte noch so deutlich hören, als säße sie neben mir im Laster. Nicola war die Regionale Meisterin der Pförtner, im Grunde genommen eine mittlere Zaubereiführungskraft, wenngleich durchschnittliche Führungskräfte ihre Freizeit nicht mit dem Versuch verbrachten, Königspudel mit Chupacabras zu kreuzen.
»Geben Sie die Arbeit im Außendienst auf, Isaac.« Sie war eigens von ihrer Ranch in Illinois hochgekommen, um sich mit mir zu treffen. Ihre Stimme war ausdruckslos, als spräche sie darüber, in welcher Farbe sie ihr Wohnzimmer zu streichen gedachte, und nicht über meine Zukunft bei den Pförtnern. »Wir haben beschlossen, Ihnen einen Schreibtischjob als Titelaufnehmer anzubieten, falls Sie interessiert sind. Wir glauben, dass Sie Ihre Sache dort ordentlich machen würden. Aber mit der Arbeit im Außendienst ist es vorbei für Sie.«
Mit andern Worten, es war vorbei mit der Zauberei für mich. Sie verlangte von mir, der Freude und dem Schauer und dem Staunen den Rücken zu kehren und diese Dinge Leuten mit besserer Selbstbeherrschung zu überlassen. Ich erinnerte mich daran, wie ich eine Grimasse schnitt, denn mein Gesicht war wund und steif von erst teilweise verheilten Verbrennungen. »Was ist meine andere Option?«
Ihre schwarzen Augenbrauen näherten sich einander ein bisschen, als sie mich anblickte. »Sie haben mich falsch verstanden. Dies ist keine Option.«
Was mich am meisten aufbrachte, war, dass sie recht hatte. Ich war ein verdammt guter Titelaufnehmer. Ich erkannte das magische Potenzial eines jeden Buches, das ich las.
Es war mir bloß nicht erlaubt, diese Magie anzutasten.
Als ich bei meinem Haus ankam, einem einstöckigen Gebäude mit Metalldach und Aluminiumverkleidung, das dringend eine Hochdruckreinigung nötig hatte, erblickte ich Lenas am Rand der unbefestigten Auffahrt geparktes Motorrad. Der schwarze und kieferngrüne Honda Sporttourer war seidig glänzend poliert. Auf die Seite war mit Airbrush ein silbernes Eichenblatt gemalt; ihr Helm hing am Heck.
Ich stellte den Motor ab und schnappte mir Klecks’ Käfig. Er war so entspannt, dass er noch das letzte Jelly Belly verputzte, was mir nur recht war.
Ein Eichhörnchenpaar verließ das Vogelhäuschen und flitzte ins Geäst, als ich mich der Eingangsstufe näherte. Es keckerte mir
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