Die Buchmagier: Roman (German Edition)
Monaten stecken. Damals folterten sie die ganze Familie, bevor sie sie selbst umbrachten.«
Madison … das dürfte dann Abigail Dooley gewesen sein. Ich erinnerte mich, von ihrem Tod gehört zu haben, aber mir waren keine Einzelheiten bekannt gewesen. Sie war schon vor Jahren aus dem Dienst ausgeschieden und hatte sich durch gelegentliche Casinobesuche einen komfortablen Ruhestand ermöglicht.
»Aber wieso ihre Familie bestrafen? Sie war doch weg vom Fenster! Sie wusste nichts, wofür es wert …« Die Erkenntnis machte mich krank. »Sie folterten sie, damit Abigail die Gedanken ihrer Familienmitglieder anhören musste, als sie starben!«
»Das war auch Nidhis Vermutung«, sagte Lena mit kalter Stimme.
Drei Morde. »Wieso habe ich bis jetzt nichts davon gehört?«
»Ich bin keine Pförtnerin. Das musst du sie fragen.« Lena starrte den Tisch an, aber es war offensichtlich, dass sie ihn nicht wirklich sah. »Es gab gestern noch zwei weitere Angriffe«, sagte sie langsam. »Der erste war gegen Nidhi Shah gerichtet.«
Und Lena war Doktor Shahs Leibwächterin … »Geht es ihr gut?«
Noch als ich fragte, las ich die Antwort schon in ihrem Gesicht. »Es waren vier Vampire. Ich war gezwungen, den ersten zu töten. Einen anderen hielt ich auf, aber sie fanden meinen Baum. Sie fällten ihn. Nie zuvor habe ich derartige Schmerzen verspürt. Ich versuchte zu kämpfen, aber als mein Baum starb …«
»Es tut mir leid.« Die Worte fühlten sich völlig unangemessen an, aber sie nickte mir dankbar zu. »Bist du … wo dein Baum fort ist …«
»Ich habe schon einmal den Verlust eines Baumes überlebt.« Sie starrte mit nassen Augen an mir vorbei. »Es dauert eine Ewigkeit, einen gefallenen Baum zu verlassen. Die Blätter welken und fallen ab. Das Holz wird trocken und bekommt Risse. Insekten bohren sich durch die Rinde.« Sie schauderte. »Ich muss für diesen Teil meines Selbst ein neues Zuhause suchen, aber für heute wird es deine Eiche tun. Es ist nicht dasselbe, aber es reicht.«
Ausnahmsweise schaffte ich es, mir sämtliche taktlosen Fragen über ihre Natur zu verkneifen.
»Sie haben auch meinen Garten ruiniert«, sagte sie geistesabwesend. »Meine Rosensträucher und meine Weinstöcke entwurzelt. Ich vermute, sie hatten Angst, ich könnte die Pflanzen als Waffen benutzen.« Sie ließ den Löffel herumwirbeln und grub ein Loch in ihr Eis. »Nidhi schrie, ich sollte mich davonmachen. Ich kroch in den nächsten Baum, der groß genug war, um mich aufzunehmen, einen dreißig Jahre alten Ahorn. Ich blieb gerade so lang, wie es brauchte, mich davon abzuhalten, meiner Eiche in den Tod zu folgen. Aber als ich herauskam, waren sie längst fort.«
Ich war Doktor Shah ein paar Mal begegnet, wenngleich selten freiwillig. Ich sah ein, dass es logisch war, Leute, die die Realität verzerrten, regelmäßig von einem professionellen Psychiater untersuchen zu lassen, aber angesichts der Tatsache, wie das für mich ausgegangen war, waren meine Gefühle für Shah bestenfalls gemischt. Was allerdings jetzt alles nicht von Bedeutung war. Ich konnte mir vorstellen, was Lena im Moment empfinden musste. Soweit ich wusste, war Doktor Shah die Person, die für Lena einer Familie am nächsten gekommen war. »Du hast getan, was du konntest.«
»Es gab keine Leiche.« Lenas Finger sanken ins Holz des Tisches, als sie sprach. »Das einzige Blut, das ich finden konnte, stammte von mir und einem der Vampire. Ich weiß nicht, wo sie hin sind oder wohin sie sie gebracht haben. Sie könnte schon tot sein, oder sie könnten sie umgedreht haben. Deshalb suchte ich die nächstgelegene Hilfe auf, die ich finden konnte.«
»Ich bin heutzutage bloß ein Titelaufnehmer.« Falls die Vampire Shah umdrehen wollten, hatte sie vielleicht eine Chance. Bei einigen Spezies konnte der Prozess Tage dauern. Aber warum die andern foltern und ermorden und dann bei ihr plötzlich anders vorgehen? »Was unternehmen die Pförtner in der Angelegenheit?«
»Sie wollen es mir nicht sagen. Sie sind ein strikter Nur-für-Menschen-Klub, schon vergessen?«
Schuldgefühle ließen mich den Blick abwenden, auch wenn ich keinen Einfluss auf unsere Politik hatte. »Wer war das zweite Opfer?«
Sie zögerte. »Es tut mir leid, Isaac. Gestern Abend fanden sie Ray Walkers Leiche.«
Die Populärpsychologie beschreibt fünf Arten von Trauer. Ich durchlief alle fünf in weniger als einer Minute, während ich mir größte Mühe gab, den Tod meines Freundes zu akzeptieren.
Walker
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