Die Buchmalerin
noch beherrschen. Aber er würde nicht mehr ewig dauern. Mit jeder Woche neigte er sich mehr seinem Ende zu. Sie würde ihn überstehen.
Und vielleicht würde sie im Skriptorium Farben sehen … Donata glaubte immer noch zu spüren, wie ihr die Worte des Psalms aus der Hand geflossen waren. Ihr Blick fiel auf den abgewetzten Stoff ihres Bündels, das neben ihren Füßen lag. Sie zögerte, griff dann jedoch danach und ging zu einer Stelle am Rand des Heubodens, wo ein Rest Helligkeit durch eine Luke in der Giebelwand fiel. Dort hockte sie sich nieder, zog das Lederpäckchen heraus und legte es vor sich auf die rauen Bohlen. Sie zögerte wieder, schlug es schließlich auseinander und fasste nach dem Silberstift. Ihre Finger schlossen sich fest um ihn, aber erst nach einer Weile wagte sie es, ihn auf das Leder zu setzen.
Sie vergegenwärtigte sich die Initiale mit dem Harfe spielenden König David, die sie vor langer Zeit gemalt hatte. Als sie das Bild so deutlich sah, als läge das bemalte Pergament vor ihr, zog sie mit dem Silberstift eine Linie über das Leder. Sofort wusste sie, dass ihre Hand nicht die Bewegungen ausführte, die sie sollte. Sie biss die Zähne zusammen, versuchte erneut, ihre Hand dazu zu zwingen, die Linie zu ziehen. Doch wieder gehorchte sie nicht, sondern entwickelte ein unkontrolliertes Eigenleben. Donata gab auf. Das tiefgelbe Abendlicht, das durch die Luke fiel, schien auf das Leder. Die Linien, die der Stift gezogen hatte, schimmerten silbrig – ein Durcheinander von wirren Strichen, in denen keinerlei Form, geschweige denn die Umrisse der Initiale zu erkennen gewesen wären.
Bitter starrte sie darauf, ehe sie den Stift wieder in das Leder schlug und es zurück in das Bündel schob. Es war töricht gewesen zu hoffen, dass sich ein Wunder ereignet und sie ihre Fähigkeit zu malen wiedererlangt hätte – nur weil ihre Hand ihr beim Schreiben des Psalms gehorcht hatte. Sie ging zurück zu dem Heuhaufen, wickelte sich in ihren Mantel, schichtete das trockene Gras um sich und schaute hinauf zu dem Scheunendach, wo sich langsam die Dunkelheit ausbreitete.
*
Veit, der rothaarige Schreiber, spähte über den Klosterhof. Im leichten Schneetreiben luden Bedienstete des vornehmen fremdländischen Herren, der am späten Abend eingetroffen war, Kisten und Ballen von Karren und Gepäckwagen. Einige Mönche halfen den Gästen dabei. Ansonsten war Ruhe im Kloster eingekehrt. Aber kurz nach Ankunft des Fremden hatte es einem aufgeschreckten Bienenschwarm geglichen. Der Schein der Fackeln, die zu beiden Seiten der steinernen Toreinfahrt brannten, fiel auf zwei Diener, die eine mächtige Truhe über den Hof schleppten. Anerkennend registrierte Veit, dass die Truhe Schnitzereien zierten und die Mäntel der Bediensteten mit Pelzstreifen gesäumt waren. Laut der Gerüchte, die er aufgeschnappt hatte, war der Fremde ein Kardinal, wenn nicht gar ein Legat des Papstes.
Die Bediensteten näherten sich dem Gebäude, das, dem Tor entgegengesetzt, an der Stirnseite des Hofes lag. Aus dessen verglaster Fensterreihe im ersten Stock drangen Licht und Stimmen nach draußen. In diesem Gebäude befanden sich der Kapitel- sowie der Speisesaal des Klosters und hier war auch der vornehme Fremde untergebracht worden.
Die Pferde des Trosses müssen bald versorgt sein, dachte Veit. Und auch wenn ihm, Gernot und Wulf, den beiden anderen Schreibern, die er vor einigen Tagen auf dem Markt in Kreuznach kennen gelernt hatte, jemand von den Bediensteten bei den abgelegenen Stallungen begegnete – was machte das schon? Es würde nicht lange dauern, bis er seine Rechnung mit dem Jungen beglichen hatte. Der Rothaarige grinste. Der Junge würde es bereuen, dass er ihn um eine angenehme, gut bezahlte Arbeit gebracht hatte. Nein, der Knabe würde während der nächsten Tage nicht in der warmen Schreibstube sitzen und Worte auf das Pergament malen.
Veit öffnete die Tür des Gästehauses und winkte Wulf und Gernot zu, die sich in der Nähe des Feuers niedergelassen hatten. Ehe die beiden den Raum verließen, bückte sich Gernot, ein breitschultriger Mann, nach einem tönernen Gefäß, in das er glühende Kohlen gefüllt hatte, und hob einige Kienspäne auf.
Als sie in die Kälte traten, zog Wulf die Schultern hoch und betrachtete die hin- und herhastenden Dienstleute. »Meinst du, es ist ruhig genug?«
»Niemand wird uns stören«, entgegnete Veit.
Sie überquerten den Klosterhof. Als sie die Stallungen erreichten, verbreitete
Weitere Kostenlose Bücher