Die Buchmalerin
Sie bildete mit den übrigen Tafeln die Form eines Dreizacks. Den Vorsitz an ihr führte Erzbischof Heinrich von Müllenark. Den Ehrenplatz zu seiner Rechten hatte Enzio, der päpstliche Legat und Kardinal von Trient, inne. Die übrigen Gäste an dieser Tafel waren Adelige aus der Umgebung von Köln, Prälaten und Äbte. Die Mitglieder des Domkapitels fehlten. Wahrscheinlich hat der Erzbischof darauf verzichtet, sie einzuladen, dachte Roger. Schließlich haben sie ihm bei Papst Gregor viel Ärger eingebrockt.
Das Podium war zu weit entfernt, als dass Roger hätte verstehen können, was an diesem Tisch gesprochen wurde. Denn er hatte sich nicht in die Nähe des Kardinals gewagt. Aber der Mimik und Gestik der vornehmen Gäste war zu entnehmen, dass sich der Kardinal als ein liebenswürdiger Unterhalter erwies. Wieder einmal gelang es ihm spielend leicht, seine Umgebung für sich zu gewinnen. Eingehend betrachtete Roger die Gesichter der Vornehmen. Nur eines erschien ihm bemerkenswert – das einer alten Frau, einer Benediktinerin. An der rechten Hand trug sie den schweren goldenen Ring einer Äbtissin. Obwohl die Frau alt war und tiefe Falten ihr Gesicht durchzogen, war sie immer noch schön. Ein Teil der Schönheit rührte von seinem Knochenbau her, der an einen stolzen Vogel erinnerte, sowie den immer noch vollen Lippen und den großen ovalen Augen. Ein Teil entsprang jedoch auch der Lebendigkeit, die das Gesicht ausstrahlte.
Die Benediktinerin lachte jetzt über etwas, das ihr Tischnachbar, ein junger, gut aussehender Mann, ihr erzählte. Den Blick, den sie dem Mann schenkte, hätte Roger, wenn die Frau keine Nonne gewesen wäre, als kokett bezeichnet. Obwohl ihre Finger von Gicht verkrümmt waren, nahm sie das Brot, das der junge Nachbar ihr reichte, mit einer anmutigen Bewegung entgegen. Dabei fiel ihr Blick auf den Kardinal, der eben Erzbischof Heinrich von Müllenark mit einer Bemerkung zum Lachen gebracht hatte. Roger erschien es, als ob die Nonne den Kardinal nachdenklich musterte, und er dachte: Sie weiß noch nicht, was sie von ihm zu halten hat. Sie hat sich noch nicht von ihm einnehmen lassen.
Als Roger sein Augenmerk wieder auf die Tafel vor ihm richtete, erkannte er, dass der Zunftvorsteher, dem er eben Wein nachgeschenkt hatte, kein Fleisch mehr vorliegen hatte. Er trat vor, nahm eine Scheibe von dem Braten, der auf einer zinnernen Platte angerichtet war, reichte sie dem Zunftvorsteher auf einer Scheibe Brot, goss dessen Nachbarn Wein ein und ging zurück zu seinem Platz an der Wand. Der Diener, der neben ihm stand – ein noch recht junger Kerl, der einen wilden braunen Haarschopf hatte –, betrachtete verträumt eine Gruppe von Spielleuten, die unterhalb des Podiums musizierten. Trotz seiner Anspannung musste Roger ein Grinsen unterdrücken. Der Junge hatte wohl noch nicht viele Festmähler erlebt.
Die Musikanten, ein halbes Dutzend Männer und Frauen, waren alle in bunte, ein wenig fadenscheinige Gewänder gekleidet und hatten zum Teil die Gesichter stark geschminkt. Andere trugen Masken. Die Melodie, die die Musikanten spielten, war langsam und getragen, hatte einen süßen, wehmütigen Unterton. Für einen Moment erinnerte sich Roger an die junge Spielmannsfrau in der Herberge an der Straße nach Andernach, daran, wie der Kopf ihres Gefährten in ihrem Schoß geruht, und an die Innigkeit, die zwischen den beiden geherrscht hatte.
Sofort schüttelte er das Bild wieder ab. Vorn auf dem Podium trat jetzt der schwarzhaarige, breitgesichtige Mann vor, der das Amt des Hofmarschalls innehatte, und stieß seinen langen hölzernen Stock einige Male auf den Boden. Der Fleischgang war beendet. Diener brachten Schalen mit warmem Wasser und Tücher.
Während sich die Gäste die fettigen Hände säuberten, lief eine Gruppe mit Degen bewaffneter Gaukler in den Saal. Ihnen folgte eine Reihe von Bediensteten, die versilberte Platten trugen, auf denen Schwäne thronten, die gebraten und wieder in ihr Federkleid gesteckt worden waren. Anerkennendes Lachen und Gemurmel ertönten. Die Gaukler traten vor das Podium und führten mit ihren Degen, die mit Goldblech beschlagen waren, einen Schaukampf auf.
Nachdem sie unter dem freundlichen Beifall der Gäste den Saal verlassen hatten, stieß der Hofmarschall erneut seinen Stab auf den Boden. Die Speisefolge des Festmahles war bei den Desserts angelangt. Diener, die für das Ab- und Auftragen der Schüsseln und Platten zuständig waren, eilten zu den Tischen. Die
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