Die Bücherdiebin
aus. »Mein Papa.«
Beide überquerten die Straße, und Hans Hubermann machte zuerst Anstalten, sie wegzuschicken. »Liesel«, sage er. »Vielleicht solltest du...«
Aber er merkte, dass das Mädchen zum Bleiben entschlossen war, und vielleicht war dies etwas, was sie sehen musste. In der leichten Herbstbrise stellte er sich neben sie. Er sagte nichts.
Sie standen auf der Münchener Straße und schauten. Andere kamen zu ihnen und schoben sich vor sie.
Sie sahen zu, wie die Juden die Straße entlangkamen, wie eine Palette aus Farben. So hat sie die Bücherdiebin zwar nicht beschrieben, aber glaubt mir, genau das waren sie, denn viele von ihnen würden sterben. Sie würden mich begrüßen als ihren letzten wahren Freund, mit Knochen aus Rauch und Seelen, die hinter ihnen baumelten.
Als sie angekommen waren, pochten ihre Füße auf der Straße. Ihre Augen waren riesig groß in ihren ausgezehrten Schädeln. Und der Dreck. Der Dreck war an ihnen festgebacken. Ihre Beine taumelten; ihre Körper wurden von Soldatenhänden gestoßen - ein paar ziellose, erzwungene Laufschritte, dann fielen sie wieder in ihr unterernährtes Schlurfen.
Hans sah sie über die Köpfe des versammelten Publikums an. Ich bin mir sicher, dass seine Augen silbern und angespannt waren. Liesel schaute durch die Lücken oder über die Schultern hinweg.
Die leidenden Gesichter der entleerten Männer und Frauen reckten sich ihnen entgegen, flehten: nicht um Hilfe - das hatten sie hinter sich gelassen -, sondern um eine Erklärung. Um irgendetwas, das diese Verwirrung begreifbar machen konnte.
Ihre Füße hoben sich kaum von der Erde.
Davidssterne waren an ihre Kleidung geheftet, und die Qual hing an ihnen wie ein Etikett. »Vergesst euer Leid nicht...« In einigen Fällen wurden sie davon überwuchert wie von Weinranken.
Auch die Soldaten passierten die Zuschauer, befahlen den Gefangenen, sich zu beeilen und mit dem Jammern aufzuhören. Einige der Soldaten waren noch fast Jungen. Der Führer leuchtete in ihren Augen.
Während sie all das betrachtete, gab es für Liesel keinen Zweifel daran, dass dies die ärmsten Seelen der Welt waren. Das ist es, was sie über dieses Erlebnis schrieb. Ihre verhärmten Gesichter waren vor Elend in die Länge gestreckt. Hunger nagte an ihnen, und sie schleppten sich vorwärts, wobei etliche die Augen zu Boden gerichtet hatten, um nicht die Menschen ansehen zu müssen, die die Straße flankierten. Nur wenige sahen flehend jene an, die gekommen waren, um ihre Erniedrigung, dieses Vorspiel ihres Todes, mit anzusehen. Andere baten darum, dass jemand, irgendjemand, vortrete und sie in die Arme nehme.
Niemand tat es.
Egal ob sie diese Parade mit Stolz betrachteten, mit zitternden Herzen oder voller Scham, niemand trat vor und tat etwas. Noch nicht.
Von Zeit zu Zeit fiel der Blick eines Mannes oder einer Frau - nein, sie waren keine Männer und Frauen, sie waren Juden - auf Liesels Gesicht in der Menge. Sie begegneten ihr voller Niederlage, und die Bücherdiebin konnte den Blick in diesem langen, unüberwindbaren Moment nur erwidern, bis sie vorbeigegangen waren. Liesel konnte nur hoffen, dass sie in ihren Augen ihre tiefe Trauer erkennen konnten, dass sie wussten, wie wahrhaftig und dauerhaft diese Trauer war.
Ich habe einen von euch bei mir im Keller!, wollte sie sagen. Wir haben zusammen einen Schneemann gebaut! Ich habe ihm dreizehn Geschenke gebracht, als er krank war!
Doch Liesel sagte nichts dergleichen.
Was hätte es genutzt?
Sie verstand, dass sie für diese Menschen vollkommen wertlos war. Sie konnten nicht gerettet werden, und in wenigen Minuten sollte sie erleben, was mit jenen geschah, die versuchten, ihnen zu helfen.
In einer kleinen Lücke in der Prozession ging ein Mann, der älter war als die anderen. Er trug einen Bart und zerrissene Kleidung.
Seine Augen hatten die Farbe von Todesqualen, und so wenig Gewicht er auch zu schleppen hatte, so war er doch zu schwer für seine Beine.
Mehrmals fiel er hin.
Die Seite seines Gesichts wurde flach auf den Asphalt gepresst.
Jedes Mal stand ein Soldat über ihm. »Steh auf!«, schrie er hinab.
Der Mann erhob sich auf die Knie und kämpfte sich hoch. Er ging weiter.
Jedes Mal, wenn er wieder zu seiner Reihe aufgeschlossen war, verlor er schon bald wieder an Fahrt und fiel ein weiteres Mal nieder. Hinter ihm kamen noch mehr - eine ganze Wagenladung voll -, und sie drohten ihn niederzutrampeln.
Der Schmerz in seinen Armen, als sie versuchten, seinen
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