Die Bücherdiebin
Max völlig umsonst gegangen. Er könnte jetzt schlafend im Keller liegen oder an seinem Skizzenbuch arbeiten.
»Du konntest nicht wissen, dass sie nicht kommen würden, Papa.«
»Ich hätte wissen müssen, dass ich dem Mann kein Brot geben durfte. Ich habe einfach nicht nachgedacht.«
»Papa, du hast nichts falsch gemacht.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Er stand auf und ging zur Küchentür hinaus, ließ sie einen Spalt offen. Zu allem Überfluss war es ein herrlicher Morgen.
Nachdem vier Tage vergangen waren, ging Papa an der Amper entlang. Er ging eine lange Strecke. Als er zurückkam, brachte er einen kleinen Zettel mit und legte ihn auf den Küchentisch.
Eine weitere Woche verging, und immer noch wartete Hans Hubermann auf seine Bestrafung. Die Striemen auf seinem Rücken vernarbten, und er verbrachte viel Zeit damit, durch Molching zu laufen. Frau Lindner spuckte ihm vor die Füße. Frau Holzinger hielt ihr Versprechen und spuckte die Tür der Hubermanns nicht mehr an. Frau Lindner war ein würdiger Ersatz. »Ich wusste es«, verhöhnte ihn die Frau, »Sie dreckiger Judenfreund.«
Unbeteiligt ging er weiter. Oft fand Liesel ihn an der Amper, auf der Brücke. Seine Arme lagen auf dem Geländer, und er beugte seinen Oberkörper darüber hinweg. Kinder auf Fahrrädern sausten an ihm vorbei, oder sie rannten mit lauten Stimmen über das Holz. Nichts von alledem berührte ihn auch nur im Mindesten.
DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH - ACHTER EINTRAG
Trauer, seelischer Schmerz über ein Unglück oder einen Verlust. Synonyme: Schwermut, Wehmut.
»Siehst du ihn?«, fragte er Liesel eines Nachmittags, als sie neben ihm stand und sich ebenfalls über das Geländer beugte. »Da unten im Wasser.«
Der Fluss strömte nicht besonders schnell. In den langsam rollenden Wellen sah Liesel die Kontur von Max Vandenburgs Gesicht, sah sein fedriges Haar und den Rest von ihm. »Er hat in unserem Keller gegen den Führer geboxt.«
»Jesus, Maria und Josef.« Papas Hände krampften sich um das Geländer. »Ich bin so ein Idiot.«
Nein, Papa.
Du bist nur ein Mensch.
Die Worte fielen ihr über ein Jahr später ein, als sie im Keller schrieb. Sie wünschte, sie hätte sie damals schon gehabt.
»Ich bin dumm«, sagte Hans Hubermann zu seiner Pflegetochter. »Und ich bin freundlich. Was mich zum größten Idioten der ganzen Welt macht. Die Sache ist die: Ich will, dass sie mich holen kommen. Alles ist besser als diese Warterei.«
Hans Hubermann brauchte eine Rechtfertigung. Er musste Gewissheit haben, dass Max Vandenburg sein Haus aus gutem Grund verlassen hatte.
Endlich, nach drei Wochen des Wartens, glaubte er seinen Moment gekommen.
Es war spät.
Liesel kehrte von Frau Holzinger zurück, als sie zwei Männer in langen schwarzen Mänteln sah. Sie rannte ins Haus.
»Papa! Papa!« Sie hätte beinahe den Küchentisch umgeworfen. »Papa, sie sind hier!«
Mama kam zuerst. »Was soll dieses Geschrei, Saumensch? Wer ist hier?«
»Die Gestapo.«
»Hansi!«
Er war schon da, und er ging vor das Haus, um sie zu begrüßen. Liesel wollte mitkommen, aber Rosa hielt sie zurück, und die beiden schauten durchs Fenster zu.
Papa stand abmarschbereit am Tor. Er war ganz zappelig.
Mama packte Liesel am Arm.
Die Männer gingen vorbei.
Papa schaute erschrocken zum Fenster, wo Liesel und Rosa Hubermann standen. Dann ging er zum Tor hinaus. Er rief ihnen nach: »He! Hier bin ich! Sie suchen doch mich! Ich wohne hier!«
Die Mantelmänner blieben einen Moment lang stehen und schauten in ihren Notizbüchern nach. »Nein, nein«, sagten sie zu Hans. Ihre Stimmen waren tief und wuchtig. »Sie sind ein bisschen zu alt für unsere Zwecke.«
Sie gingen weiter, aber nicht sehr weit. Vor Haus Nummer 35 blieben sie kurz stehen und traten dann durch das Tor.
»Frau Steiner?«, fragten sie, als ihnen die Tür geöffnet wurde.
»Ja?«
»Wir möchten gerne mit Ihnen über eine wichtige Angelegenheit sprechen.«
Die Mantelmänner standen wie bekleidete Steinsäulen auf der Schwelle zu Steiners kleinem Häuschen.
Aus irgendeinem Grund fragten sie nach dem Jungen. Die Mantelmänner waren wegen Rudi gekommen.
TEIL 8
DIE WORTESCHÜTTLERIN
Es wirken mit:
Dominos und Dunkelheit - die Überlegung, wie Rudi nackt aussieht - Strafe - die Frau eines Mannes, der sein Versprechen hält - ein Sammler - die Brotesser - eine Kerze in den Bäumen - ein verstecktes Skizzenbuch - und die Anzugsammlung des Anarchisten
dominos und dunkelheit
Mit den Worten
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