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Die Bücherdiebin

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Titel: Die Bücherdiebin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Zusak
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Versprechen war ein Versprechen. Es gab Musik, Suppe, Witze und das Gelächter eines vierzehnjährigen Mädchens.
    »Saumensch«, warnte Mama sie, »hör auf, so laut zu lachen. So lustig sind seine Witze nicht. Außerdem sind sie schweinisch...«
    Nach einer Woche meldete sich Hans wieder zum Dienst und fuhr in die Stadt zu einem Wehrmachtsoffizier. Zu Hause erzählte er, dass sich dort ein anständiger Vorrat an Zigaretten und Lebensmitteln befand und dass er manchmal ein paar Kekse oder etwas Marmelade mit heimbringen könnte. Es war wie in den guten alten Zeiten. Ein unbedeutender Luftangriff im Mai. Ein »Heil Hitler« hier und da, und alles war gut.
    Bis zum achtundneunzigsten Tag.
    EINE KNA PPE BEMERKUNG EINER ALTEN FRAU
    Sie stand auf der Münchener Straße und sagte: »Jesus, Maria und Josef, ich wünschte, sie würden sie nicht hier entlangbringen. Diese elenden Juden bringen nur Pech. Sie sind ein böses Omen. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, habe ich das Gefühl, dass wir verloren sind.«
    Es war dieselbe alte Frau, die die Juden beim ersten Mal, als Liesel sie sah, angekündigt hatte. Von ebener Erde aus betrachtet, war ihr Gesicht eine Backpflaume. Ihre Augen hatten das dunkle Blau einer Vene. Und ihre Prophezeiung war zutreffend.
    Im Herzen des Sommers erhielt Molching eine Vorahnung dessen, was kommen würde. Es war so wie immer. Zuerst kam der auf und ab hüpfende Kopf eines Soldaten in Sicht und der Gewehrlauf, der in die Luft über ihm stieß. Dann die zerrüttete Kette aus klirrenden Juden.
    Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie diesmal aus der entgegengesetzten Richtung vorbeigetrieben wurden. Sie wurden durch das benachbarte Nebling gebracht, um die Straßen zu kehren und die Aufräumarbeiten zu erledigen, die die Wehrmacht verweigerte. Spät am Tag wurden sie ins Lager zurückgeführt, langsam und müde, geschlagen.
    Wieder hielt Liesel Ausschau nach Max Vandenburg. Sie zog die Möglichkeit in Betracht, dass er in Dachau gelandet war, ohne durch Molching gekommen zu sein. Er war nicht dabei. Diesmal nicht.
    Aber wartet es nur ab, denn an einem warmen Nachmittag im August würde Max mit ziemlicher Sicherheit mit dem Rest von ihnen durch die Stadt laufen. Aber anders als die anderen würde er nicht zu Boden schauen.
    Er weigerte sich, seinen Blick auf jenen Boden zu richten, der dem Führer als Bühne diente.
    MAX VANDENBURGS BLICKRICHTUNG
    Er würde die Gesichter in der Münchener Straße nach dem eines diebischen Mädchens absuchen.
    An diesem Tag im Juli, der - so errechnete Liesel später - gleichzeitig der achtundneunzigste Tag seit der Rückkehr ihres Papas war, stand sie da und studierte den vorrückenden Haufen aus trauervollen Juden, immer auf der Suche nach Max. Sich auf ihn zu konzentrieren schwächte wenigstens den Schmerz des bloßen Zuschauens ab.
    Was für ein schrecklicher Gedanke, schrieb sie später im Keller der Himmelstraße, aber sie wusste, dass es stimmte. Der Schmerz, ihnen zuzuschauen. Aber was war mit deren Schmerz? Der Schmerz der stolpernden Schuhe und der Folter und der sich schließenden Tore des Lagers?
    Zwei Mal innerhalb von zehn Tagen kamen sie vorbei, und kurz darauf erwies sich die Aussage der backpflaumengesichtigen Frau auf der Münchener Straße als korrekt.
    Das Leiden war über sie gekommen.
    Wenn sie die Juden als eine Warnung oder ein Vorspiel dafür betrachteten, so hätten sie auch den Führer und sein Bestreben, Russland zu unterwerfen, als den eigentlichen Grund ansehen müssen. Denn als die Himmelstraße Ende Juli erwachte, fand man einen heimgekehrten Soldaten tot auf. Er hing von einem der Deckenbalken in einer Wäscherei neben Frau Lindners Eckladen herab. Ein weiteres menschliches Pendel. Eine weitere Uhr, die aufgehört hatte zu ticken.
    Der sorglose Besitzer der Wäscherei hatte die Tür nicht abgeschlossen.
    24. JULI, 6.03 UHR MORGENS
    In der Wäscherei war es warm, die Deckenbalken waren fest, und Michael Holzinger sprang von dem Stuhl wie von einer Klippe.
    So viele Leute jagten in dieser Zeit hinter mir her, schrien meinen Namen, baten mich, sie mitzunehmen. Dann gab es noch die wenigen, die mich gelegentlich zu sich riefen und mir mit gepresster Stimme zuflüsterten.
    »Nimm mich«, sagten sie, und sie ließen sich nicht aufhalten. Sie hatten Angst, keine Frage, aber nicht vor mir. Es war die Angst, alles zu vermasseln und dann wieder sich selbst gegenüberzustehen, der Welt und Menschen wie euch.
    Es gab nichts, was ich hätte tun

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