Die Bücherdiebin
und diesbezüglich kann man von Glück sagen, dass ich ein wandelndes Wunder bin. Niemand außer mir könnte über fünfunddreißigtausend Menschen in so kurzer Zeit forttragen. N icht in einer Million Menschenj ahren.
Den Deutschen wurde nun langsam, aber sicher die Rechnung präsentiert. Die pickligen, klapprigen Knie des Führers fingen an zu zittern.
Aber eines muss man diesem Führer lassen.
Er hatte einen eisernen Willen.
Weder ließ er nach in seiner Kriegstreiberei noch verringerte sich die Bestrafung und Ausrottung der sogenannten jüdischen Plage. Mittlerweile befanden sich überall in Europa Konzentrationslager, viele auch auf deutschem Boden.
In diesen Lagern zwang man die Menschen zu arbeiten und zu laufen.
Max Vandenburg war ein solcher Jude.
der weg der worte
Es passierte in einer Kleinstadt im Herzen von Hitlers Reich.
Die Flut des Leidens wurde mit schöner Regelmäßigkeit herausgepumpt, und gerade war wieder ein Stück davon angekommen.
Juden wurden durch die Randbezirke von München getrieben, und ein junges Mädchen tat das Undenkbare, bahnte sich ihren Weg durch die anderen und ging mit den Gefangenen. Die Soldaten zerrten sie weg und stießen sie zu Boden. Sie stand auf und ging weiter.
Der Morgen war warm.
Ein herrlicher Tag für eine Parade.
Die Soldaten und die Juden gingen durch etliche Städte und hatten nun Molching erreicht.
Möglicherweise gab es in den Lagern mehr Arbeit, oder einige Gefangene waren gestorben. Was immer der Grund dafür war, jedenfalls brachte man einen neuen Schub frischer, müder Juden zu Fuß nach Dachau.
Wie immer rannte Liesel gemeinsam mit der üblichen Schar Schaulustiger zur Münchener Straße.
»Heil Hitler!«
Sie hörte den ersten Soldaten schon aus weiter Ferne und schob sich durch die Menge, auf die Stimme und die Prozession zu. Die Stimme erstaunte sie. Sie verwandelte den unendlichen Himmel in eine Zimmerdecke, an die sie fast mit ihrem Kopf stieß, und die Worte prallten ab, landeten irgendwo auf dem Boden vor den humpelnden jüdischen Füßen.
Ihre Augen.
Sie schauten auf die unter ihnen hinweggleitende Straße, einer nach dem anderen. Als Liesel einen guten Aussichtspunkt erreicht hatte, blieb sie stehen und betrachtete sie. Ihre Augen rasten durch die Akten aus Gesichtern und verglichen sie mit dem des Juden, der Der Überstehmann und Die Worteschüttlerin geschrieben hatte.
Haare wie Federn, dachte sie.
Nein, Haare wie Geäst. So sahen sie aus, wenn sie nicht gewaschen waren. Halt Ausschau nach Haaren wie Zweige und sumpfigen Augen und einem Splitterbart.
Gott, es waren so viele.
So viele Paare sterbender Augen und schlurfender Füße.
Liesel suchte sie ab, und es war nicht so sehr ein Erkennen von Gesichtszügen, das Max Vandenburg verriet. Es war die Art, wie sich das Gesicht benahm - es betrachtete ebenfalls die Menge. Starr vor Aufmerksamkeit.
Liesel fühlte, wie sie innehielt, als sie das einzige Gesicht entdeckte, das die deutschen Zuschauer direkt anblickte. Es prüfte sie mit solcher Entschlossenheit, dass die Leute rechts und links der Bücherdiebin es bemerkten und auf ihn deuteten.
»Was guckt der denn so?«, fragte eine männliche Stimme neben ihr.
Die Bücherdiebin trat auf die Straße.
Noch nie war ihr eine Bewegung so zur Last gefallen. Noch nie war das Herz in ihrer jungen Brust so entschieden und so groß gewesen.
Sie trat vor und sagte sehr leise: »Er sucht nach mir.«
Ihre Stimme machte sich davon und fiel in ihr hinab. Sie musste sie wiederfinden -hineingreifen, um wieder sprechen zu lernen und seinen Namen zu rufen.
Max.
»Ich bin hier, Max!« Lauter.
»Max, ich bin hier!« Er hörte sie.
MAX VANDENBURG, AUGUST 1943
Seine Haare waren wie Geäst, genau wie Liesel vermutet hatte, und die sumpfigen Augen traten hierhin und dorthin, erhoben sich über die Schultern der anderen Juden. Als sie bei ihr ankamen, flehten sie. Sein Bart strich sein Gesicht hinab, und sein Mund zitterte, als er das Wort sagte, den Namen, das Mädchen. Liesel.
Liesel zuckte nun endgültig von der Menge weg und betrat die Flut aus Juden, webte sich hindurch, bis sie seinen Arm mit ihrer linken Hand nehmen konnte.
Sein Gesicht fiel auf sie nieder.
Es streckte sich ihr entgegen, als sie stolperte und der Jude, der böse Jude, ihr aufhalf. Er brauchte seine ganze Kraft dazu.
»Ich bin hier, Max«, sagte sie wieder. »Ich bin hier.«
»Ich kann es nicht glauben...« Die Worte tropften von Max Vandenburgs Mund. »Wie groß
Weitere Kostenlose Bücher