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Die Bücherdiebin

Die Bücherdiebin

Titel: Die Bücherdiebin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Zusak
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Übermaß; er war das Einzige, was man in ihrem Geschäft umsonst bekam. Sie lebte für ihren Laden, und ihr Laden lebte für das Dritte Reich. Als später im Jahr die Lebensmittel rationiert wurden, war es ein offenes Geheimnis, dass sie bestimmte Waren, die schwer zu bekommen waren, unter der Hand verkaufte und das Geld der Partei spendete. An der Wand hinter ihrem Sitzplatz, den sie für gewöhnlich einnahm, hing ein gerahmtes Bild des Führers. Wenn man ihren Laden betrat und nicht »Heil Hitler« sagte, wurde man nicht bedient.
    Als sie vorbeigingen, lenkte Rudi Liesels Aufmerksamkeit auf die stark vergrößerten Augen hinter den dicken Brillengläsern, die sie durch das Ladenfenster anfunkelten.
    »Sag >Heil<, wenn du da reingehst«, wies er sie an. »Es sei denn, du willst woanders einkaufen.« Als sie das Geschäft schon weit hinter sich gelassen hatten, schaute sich Liesel noch einmal um und sah, dass die kugelsicheren Augen immer noch da waren, wie festgeklebt am Schaufenster.
    Sie bogen um die Ecke in die Münchener Straße, die Hauptstraße, die nach Molching hinein und wieder heraus führte. Sie war mit Schneematsch zugekleistert.
    Wie so oft kamen ein paar Reihen von Soldaten anmarschiert, die eine Übung absolvierten. Ihre Uniformen gingen aufrecht, und ihre schwarzen Stiefel verunreinigten den Schnee zusätzlich. Ihre Gesichter waren konzentriert geradeaus gerichtet.
    Sie schauten den Soldaten nach, bis diese verschwunden waren. Dann gingen Liesel und die Steiner-Kinder an ein paar Schaufenstern vorbei und an dem imposanten Rathaus, das in späteren Jahren von den Füßen gefegt und untergepflügt werden würde. Ein paar der Läden waren verlassen und trugen noch den gelben Stern und judenfeindliche Schmähungen. Weiter unten an der Straße reckte sich die Kirche himmelwärts, ihr Dach ein kunstvolles Ziegelarrangement. Die gesamte Straße war eine lang gestreckte Röhre aus reinem Grau - ein Korridor aus Feuchtigkeit, Menschen, die durch die Kälte stapften, und dem platschenden Geräusch wässriger Schritte.
    Plötzlich rannte Rudi los und zog Liesel mit sich.
    Er klopfte an das Fenster einer Schneiderei.
    Wenn Liesel in der Lage gewesen wäre, das Schild zu lesen, hätte sie erkannt, dass der Laden Rudis Vater gehörte. Das Geschäft war noch nicht geöffnet, aber drinnen breitete ein Mann Kleidungsstücke auf der Verkaufstheke aus. Er schaute hoch und winkte.
    »Mein Papa«, erklärte ihr Rudi, und schon bald waren sie von einer Schar unterschiedlich hoch gewachsener Steiner-Sprösslinge umgeben, die alle winkten oder ihrem Vater Handküsse zuwarfen oder - was die Älteren anbelangte - einfach nur dastanden und grüßend nickten. Dann gingen sie weiter, zu dem letzten bemerkenswerten Ort, bevor man die Schule erreichte.
    LETZTER HALT
    Die Straße der gelben Sterne
    Es war ein Ort, an dem niemand bleiben, den niemand anschauen wollte, aber fast jeder tat es trotzdem. Wie ein langer, gebrochener Arm krümmte sich die Straße vor ihnen, und sie war von etlichen Häusern mit Fenstern wie klaffende Wunden und zerschlagenen Wänden gesäumt. Auf den Türen prangte der Davidsstern.
    Diese Häuser waren wie Aussätzige, wie entzündete Wunden auf dem verletzten deutschen Boden.
    »Schillerstraße«, verkündete Rudi. »Die Straße der gelben Sterne.«
    Am Fuß der Straße waren ein paar Leute zu sehen. Durch den Nieselregen wirkten sie wie Geister. Keine Menschen, sondern Schemen gingen dort unter den bleifarbenen Wolken.
    »Kommt schon, ihr zwei«, rief Kurt, der Älteste der Steiner-Kinder, ihnen zu, und Rudi und Liesel gingen schnell weiter.
    In der Schule suchte Rudi in den Pausen Liesels Nähe. Es war ihm egal, dass die anderen sich über die Dummheit des neuen Mädchens lustig machten. Er war für sie da, von Anfang an, und er war auch später noch da, als Liesels Wut überkochte. Aber er tat es nicht umsonst.
    WAS IST SCHLIMMER ALS EIN JUNGE, DER DICH HASST?
    Ein Junge, der dich liebt.
    Als sie eines Tages Ende April aus der Schule kamen, warteten Rudi und Liesel in der Himmelstraße auf ihr tägliches Fußballspiel. Sie waren ein bisschen zu früh dran, und die anderen waren noch nicht da.
    Die einzige Person, die auf der Straße auftauchte, war dieses Schandmaul Pfiffikus.
    »Schau mal«, sagte Rudi.
    STECKBRIEF
    Pfiffikus war schmal gebaut. Er bestand aus weißem Haar.
    Er bestand weiterhin aus einem schwarzen Regenmantel, braunen Hosen, modrigen Schuhen und einem Mundwerk -und was für einem

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