Die Bücherdiebin
siegessicher. Immerhin hatte Rudi jeden seiner letzten achtzehn Elfmeter versenkt, selbst als die gegnerische Mannschaft den Torwart Tommi Müller gegen einen anderen Spieler ausgewechselt hatte. Egal wer im Tor stand, Rudi würde treffen.
Ihre Mannschaft versuchte, Liesel aus dem Tor zu holen. Wie ihr euch vorstellen könnt, wollte sie sich das nicht gefallen lassen. Rudi pflichtete ihr bei.
»Nein, nein.« Er lächelte. »Lasst sie ruhig drin.« Er rieb sich die Hände.
Es hatte aufgehört zu schneien, und zwischen ihnen hatten sich braune Fußabdrücke angesammelt. Rudi lief an, schoss, und Liesel tauchte seitwärts und wehrte den Ball irgendwie mit ihrem Ellbogen ab. Grinsend stand sie auf, aber das Erste, was sie sah, war ein Schneeball, der ihr ins Gesicht flog. Er bestand nur zur Hälfte aus Schnee, die andere Hälfte war Schlamm. Er brannte wie verrückt.
»Wie gefällt dir das?« Der Junge grinste und rannte dann dem Ball hinterher.
»Saukerl«, flüsterte Liesel. Sie gewöhnte sich schnell an den Umgangston in ihrem Zuhause.
EIN PAAR WORTE ÜBER RUDI STEINER
Er war acht Monate älter als Liesel, hatte dürre Beine, spitze Zähne, listige blaue Augen, und seine Haare hatten
die Farbe von Zitronen. Als eines von sechs Steiner-Kindern war er immer hungrig.
Die Bewohner der Himmelstraße hielten ihn für ein bisschen verrückt. Grund dafür war ein Ereignis, über das nur selten gesprochen wurde, das aber allgemein als die »Jesse-Owens-Sache« bekannt war: Rudi hatte sich eines Nachts mit Kohle schwarz angemalt und war ein einsames 100-Meter-Rennen auf dem hiesigen Sportplatz gelaufen.
Verrückt oder nicht, Rudi war dazu bestimmt, Liesels bester Freund zu werden. Und ein Schneeball im Gesicht ist der perfekte Beginn einer lebenslangen Freundschaft.
Ein paar Tage nachdem für Liesel die Schule angefangen hatte, trat sie mit den Steiner-Kindern den Schulweg an. Rudis Mutter, Barbara, nahm ihrem Sohn das Versprechen ab, das neue Mädchen zu begleiten, hauptsächlich weil sie von der Geschichte mit dem Schneeball gehört hatte. Es spricht für Rudi, dass er sofort damit einverstanden war. Er war kein jugendlicher Frauenhasser, ganz und gar nicht. Er mochte Mädchen, sehr sogar, und er mochte Liesel. (Daher auch der Schneeball.) Im Grunde genommen war Rudi Steiner einer dieser dreisten kleinen Kerle, die es genossen, von Weibern umschwärmt zu sein.
Eine jede Kindheit scheint ein solches Exemplar in ihrer Mitte und ihrem Dunstkreis zu haben. Er war der Junge, der sich weigerte, vor dem anderen Geschlecht Angst zu haben, gerade weil alle anderen sich zu Tode fürchteten, und er war der Typ, der sich nicht scheute, eine Entscheidung zu treffen. In Bezug auf Liesel Meminger hatte Rudi seine Entscheidung bereits gefällt.
Auf dem Weg zur Schule versuchte er, sie auf ein paar Besonderheiten der Stadt aufmerksam zu machen. Zumindest gelang es ihm, sie alle aufzuzählen, während er gleichzeitig seinen jüngeren Geschwistern befahl, gefälligst den Mund zu halten, und er selbst das Gleiche von seinen älteren Geschwistern zu hören bekam.
Sein erstes Objekt des Interesses war ein kleines Fenster im zweiten Stock eines Wohnhauses.
»Da wohnt der Tommi.« Er merkte, dass Liesel sich nicht an ihn erinnerte. »Der mit dem Zucken, weißt du noch? Als er fünf Jahre alt war, hat er sich am kältesten Tag des Jahres auf dem Markt verlaufen. Als man ihn drei Stunden später fand, war er eingefroren und hatte schlimme Ohrenschmerzen. Nach einer Weile haben sich seine Ohren innen ganz entzündet, und er musste sich drei, vier Mal operieren lassen. Dabei haben die Ärzte irgendwelche Nerven kaputtgemacht. Und deshalb zuckt er jetzt.«
»Und kann nicht Fußball spielen«, fügte Liesel hinzu.
»Überhaupt nicht.«
Als Nächstes kam der Eckladen am Ende der Himmelstraße. Frau Lindners Eckladen.
EINE WICHTIGE TATSACHE ÜBER FRAU LINDNER
Sie hatte eine goldene Regel.
Frau Lindner war eine scharfkantige Frau mit dicken Brillengläsern und einem ruchlosen Blick. Sie hatte sich diesen Blick zugelegt, um jeden Gedanken an Diebstahl in ihrem Laden im Keim zu ersticken. Sie hütete ihr Geschäft mit einer s oldatesken Haltung, einer unterkühlten Stimme, und selbst ihr Atem roch nach »Heil Hitler«. Der Laden selbst war im Innern weiß und kalt und völlig blutleer. Das kleine Haus, das an seine Seite gezwängt dastand, schien vor lauter Strenge zu erschauern. Frau Lindner selbst verströmte diesen Eindruck im
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