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Die Bücherdiebin

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Titel: Die Bücherdiebin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Zusak
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darfst auch aus dem Tor raus.« »Pfeif drauf.«
    Während sie zur Himmelstraße zurückgingen, wagte Rudi eine Prophezeiung. »Eines Tages, Liesel«, sagte er, »wirst du bereit sein, für einen Kuss von mir zu sterben.«
    Aber Liesel wusste es besser.
    Sie tat einen Schwur.
    So lange sie und Rudi Steiner lebten, würde sie diesen elenden, schmutzigen Saukerl nie und nimmer küssen, schon gar nicht heute. Es gab Wichtigeres. Sie schaute an ihrem Anzug aus Schlamm hinab und sprach aus, was offensichtlich war.
    »Sie bringt mich um.«
    »Sie« war natürlich niemand anderes als Rosa Hubermann, auch bekannt als Mama, und sie brachte Liesel tatsächlich fast um. Das Wort »Saumensch« spielte bei der Bestrafungszeremonk eine herausragende Rolle. Sie machte Hackfleisch aus Liesel.
    die jesse owens sache
    Als Rudi sein Husarenstück auf der Rennbahn vollführte, wohnte Liesel noch nicht in der Himmelstraße. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dabei gewesen zu sein. In ihrer Erinnerung war sie zu einem Mitglied von Rudis imaginärem Publikum geworden. Niemand sonst sprach darüber, Rudi dagegen umso häufiger - und zwar so häufig, dass Liesel, als sie daranging, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben, die Jesse-Owens-Sache als Teil der Ereignisse betrachtete, die sie wirklich und wahrhaftig selbst erlebt hatte.
    Es war das Jahr 1936. Die Olympischen Spiele. Hitlers Spiele.
    Jesse Owens hatte gerade mit der Staffelmannschaft seine vierte Goldmedaille gewonnen. Die Behauptung, dass er ein Untermensch sei, weil er schwarz war, und die Tatsache, dass Hitler sich weigerte, ihm die Hand zu schütteln, gingen um die ganze Welt. Selbst die rassistischsten Deutschen waren beeindruckt von Owens' Leistung, und so schlüpften auch Worte der Anerkennung und Bewunderung durch die Maschen der Zensur. Doch niemand war begeisterter als Rudi Steiner.
    Die ganze Familie saß im Wohnzimmer versammelt. Rudi schlich sich aus dem Zimmer und in die Küche. Er holte ein paar Stückchen Kohle aus dem Herd und versteckte sie in seinen kleinen Händen. Auf geht's. Ein Lächeln. Er war bereit.
    Er schmierte sich mit Kohle voll, schön dick, bis er vollkommen schwarz war. Selbst seine Haare kamen nicht ungeschoren davon.
    Der Junge erblickte sein Spiegelbild im Fenster und schenkte ihm ein fast irres Grinsen. Gekleidet in eine kurze Hose und Unterhemd, stahl er heimlich, still und leise das Fahrrad seines älteren Bruders und radelte die Straße entlang zum Sportplatz. In eine seiner Hosentaschen hatte er eine Kohlereserve gepackt, für den Fall, dass etwas von der Schwärze abging.
    In Liesels Erinnerung war der Mond in dieser Nacht wie an den Himmel genäht. Drumherum waren Wolken gestickt.
    Das rostige Fahrrad kam knirschend am Zaun des Sportplatzes zum Stehen, und Rudi kletterte hinüber. Er landete auf der anderen Seite und trottete mit seinen schmächtigen Beinen auf die Startlinie der 100-Meter-Strecke zu. Voller Enthusiasmus setzte er zu einer Reihe von unbeholfenen Dehnübungen an. Er grub Startlöcher in den Schmutz.
    Er wartete auf seinen Augenblick, marschierte auf und ab, sammelte seine Konzentration unter der Dunkelheit des Himmels, während Mond und Wolken zuschauten. Angespannt.
    »Owens sieht gut aus«, begann er seinen Kommentar. »Dies könnte sein bisher größter Sieg werden...«
    Er schüttelte die nicht vorhandenen Hände seiner Kontrahenten und wünschte ihnen Glück, obwohl er genau wusste: Sie hatten keine Chance.
    Der Starter bedeutete ihnen, nach vorn zu kommen. Ringsherum verdichtete sich die Menschenmenge auf den Tribünen. Bald war jeder Zentimeter besetzt. Sie alle riefen wie aus einem Mund. Sie sangen Rudi Steiners Namen - und sein Name war Jesse Owens.
    Dann wurde alles still.
    Seine nackten Füße bohrten sich in die Erde. Er spürte sie zwischen den Zehen.
    Auf die Anordnung des Starters hin begab er sich in eine kauernde Position - und die Pistole schoss ein Loch in die Nacht.
    Im ersten Drittel des Rennens lagen alle gleichauf, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich der kohlschwarze Owens löste und den anderen davonlief.
    »Owens ist vorn«, schrie die schrille Stimme des Jungen, während er über die leere Aschenbahn lief, direkt auf den tosenden Applaus und den olympischen Ruhm zu. Er konnte sogar das Band fühlen, das von seiner Brust entzweigesprengt wurde, als er - der Sieger - ins Ziel lief. Der schnellste Mann der Welt.
    Erst bei der Ehrenrunde wendete sich das Blatt. Inmitten der Menge stand sein

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