Die Bücherdiebin
der Münchener Straße erinnerte sie sich an das Ereignis, das vorige Woche hier stattgefunden hatte. Sie sah die Juden die Straße entlangkommen, sah ihre Ströme, ihre Nummern und ihren Schmerz. Sie entschied, dass in dem Zitat ein Wort fehlte.
Die Welt ist ein grässlicher Eintopf, dachte sie.
Sie ist so grässlich, dass ich sie nicht ertragen kann. Liesel überquerte die Brücke. Die Amper war wundervoll, smaragdgrün und klar. Sie konnte die Steine auf dem Grund sehen und hörte das vertraute Lied des Wassers. Die Welt verdiente einen solchen Fluss gar nicht.
Sie erstieg den Hügel zur Großen Straße. Die Häuser waren hübsch und verabscheuungswürdig. Sie genoss den kleinen Schmerz in ihren Waden und ihrer Lunge. Geh schneller, dachte sie, und sie erhob sich, wie ein Ungeheuer aus dem Sand. Sie roch das Gras der Nachbarschaft. Es war frisch und süß, grün mit gelben Spitzen. Sie überquerte den Hof, ohne den Kopf auch nur ein Mal zur Seite zu drehen, ohne jedes ängstliche Zögern.
Das Fenster.
Hände auf dem Rahmen. Die Schere der Beine. Aufkommende Füße.
Bücher und Seiten und ein glücklicher Ort.
Sie zog ein Buch aus dem Regal und setzte sich damit auf den Fußboden.
Ist sie zu Hause?, fragte sie sich, aber es kümmerte sie nicht, ob Ilsa Hermann in der Küche Kartoffeln schälte oder auf dem Postamt in der Schlange stand. Oder wie ein Geist über ihr schwebte und betrachtete, was das Mädchen las.
Das Mädchen scherte sich nicht mehr darum.
Lange Zeit saß sie da und las.
Sie hatte ihren Bruder sterben sehen, mit einem wachen Auge und einem, das noch im Traum gefangen war. Sie hatte ihrer Mutter Lebewohl gesagt und in Gedanken ihren einsamen Marsch zurück zum Bahnhof gesehen, nach Hause in die Vergessenheit. Eine Frau aus Draht hatte sich hingelegt, während ihr Schrei durch die Straße lief, bis er zur Seite fiel, wie eine rollende
Münze, die an Schwung verliert. Ein junger Mann hing an einem Seil aus Stalingrader Schnee. Sie hatte einen Bomberpiloten in einem Metallkasten sterben sehen. Sie hatte erlebt, wie ein Jude, der ihr zwei Mal die schönsten Seiten ihres Lebens geschenkt hatte, in ein Konzentrationslager getrieben worden war. Und im Zentrum all dessen sah sie den Führer, der seine Worte brüllte und sie herumreichte.
Diese Bilder waren die Welt, und es brodelte in ihr, während sie inmitten der schönen Bücher mit ihren manikürten Titeln saß. Es kochte in ihr, während sie die Seiten anschaute, die bis zum Erbrechen voll mit Absätzen und Worten waren.
Ihr Mistkerle, dachte sie.
Ihr geliebten Mistkerle.
Macht mich nicht glücklich. Bitte erfüllt mich nicht. Lasst mich nicht glauben, dass aus all dem etwas Gutes entstehen kann. Schaut euch meine Wunden an. Seht ihr diesen Schnitt? Seht ihr den Schnitt in meinem Innern? Seht ihr, wie er vor euren Augen wächst und mich auswäscht? Ich will auf nichts mehr hoffen. Ich will nicht beten, dass Max am Leben und in Sicherheit ist. Oder Alex Steiner.
Denn die Welt verdient sie nicht.
Sie riss eine Seite aus dem Buch und zerpflückte sie. Dann ein Kapitel.
Schon bald lagen zwischen ihren Beinen und um sie herum Wortfetzen. Worte. Warum musste es sie geben? Ohne sie wäre nichts hiervon wirklich. Ohne Worte wäre der Führer ein Niemand. Es würde keine humpelnden Gefangenen geben, keinen Grund für Trost oder weltliche Raffinessen, auf dass es uns wieder besser gehe.
Wozu waren die Worte gut?
Dann sagte sie es laut, in dem orange glühenden Raum. »Wozu sind Worte gut?«
Die Bücherdiebin stand auf und ging vorsichtig zur Tür der Bibliothek. Der Protest der Scharniere war halbherzig, nicht der Rede wert. Der luftige Korridor war durchdrungen von hölzerner Leere.
»Frau Hermann?«
Die Frage fiel auf sie zurück und wurde wieder weggestoßen, in Richtung der Eingangstür. Sie schaffte es nicht bis dorthin, sondern landete schwach auf den dicken Holzdielen.
»Frau Hermann?«
Nichts als Stille begrüßte ihre Rufe, und sie überlegte, ob sie in der Küche nachsehen sollte, um Rudis willen. Sie hielt sich zurück. Es wäre nicht richtig, Lebensmittel von einer Frau zu stehlen, die für sie ein Wörterbuch an den Fensterrahmen gelehnt hatte. Außerdem hatte sie gerade eines ihrer Bücher zerstört, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Sie hatte bereits genug Schaden angerichtet.
Liesel kehrte in die Bibliothek zurück und öffnete eine Schreibtischschublade. Sie setzte sich hin.
DER LETZTE BRIEF
Liebe Frau
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