Die Bücherdiebin
Rosa Hubermann auf, suchte sich einen Kochlöffel aus und schob ihn Liesel unter die Nase. Sie hielt das für eine Notwendigkeit. »Wenn du unterwegs bist, bringst di den Sack nach jeder einzelnen Adresse auf direktem Weg wieder nach Hause, mit dem Geld, selbst wenn es nur ein paar Münzen sind. Du wirst nicht zu Papa gehen, falls er zufällig mal irgendwo arbeitet. Du wirst dich nicht mit diesem kleinen Saukerl Rudi Steiner abgeben. Direkt. Nach. Hause.«
»Ja, Mama.«
»Und wenn du den Sack trägst, dann machst du es gefälligst ordentlich. Du schwingst ihn nicht herum, du lässt ihn nicht fallen, du zerknautschst ihn nicht, und du wirfst ihn dir auch nicht über die Schulter.«
»Ja, Mama.«
»Ja, Mama.« Rosa Hubermann konnte sehr gut andere Menschen imitieren, und noch dazu außerordentlich feurig. »Das will ich auch hoffen, Saumensch. Ich finde es heraus, wenn du dich nicht daran hältst, das ist dir hoffentlich klar?«
»Ja, Mama.«
Diese zwei Worte waren oft der Rettungsring, der Liesel das Überleben sicherte, ebenso wie absoluter Gehorsam. Von da an ging Liesel durch die Straßen von Molching, vom armen Ende zum reichen, holte Wäsche ab und lieferte sie aus. Am Anfang war es ein einsamer Weg, worüber sie sich nie beklagte. Als sie das erste Mal um die Ecke in die Münchener Straße einbog, schaute sie sich gründlich um und schwang dann den Sack kraftvoll einmal im Kreis - eine regelrechte Revolution. Dann schaute sie hinein. Keine Knitter, dem Himmel sei Dank. Keine Falten. Kein Knautschen. Nur ein Lächeln und das Versprechen, es nie wieder zu tun.
Alles in allem tat Liesel es gern. Sie bekam kein Geld dafür, aber sie war aus dem Haus, und ohne Mama durch die Straßen zu laufen war das reinste Vergnügen. Keiner, der sie herumkommandierte oder fluchte. Und niemand, der sie anstarrte, während sie beschimpft wurde, weil sie den Sack falsch hielt. Nichts außer Ernsthaftigkeit.
Mit der Zeit hatte sie auch die Leute gern:
· die Pfaffelhürvers, die ihre Wäsche begutachteten und sagten: »Ja, ja. Sehr gut, sehr gut.« Liesel nahm an, dass sie alles zwei Mal sagten und taten.
· die sanfte Helena Schmidt, die das Geld aus ihrer arthrosegekrümmten Hand zählte
· die Weingartners, deren Kater mit den herabhängenden Schnurrhaaren stets zuerst an der Tür war. Klein Goebbels nannten sie ihn, nach Hitlers rechter Hand.
· und Frau Hermann, die Gattin des Bürgermeisters, die mit Fusselhaaren und zitternd in dem breiten, zugigen Türrahmen stand. Stets schweigend. Stets allein. Kein Wort, nicht ein einziges Mal.
Manchmal begleitete Rudi sie.
»Wie viel Geld hast du da?«, frage er sie eines Nachmittags. Es war schon fast dunkel, und sie waren auf dem Rückweg. Gerade kamen sie am Eckladen vorbei. »Weißt du, was man über Frau Lindner sagt? Dass sie irgendwo Süßigkeiten versteckt, und für genug Geld...«
»Denk nicht mal dran.« Liesel hielt das Geld fest umklammert, wie immer. »Dich trifft es ja nicht - du bist ja nicht der, der Mama unter die Augen treten muss.«
Rudi zuckte mit den Schultern.
»Den Versuch war es wert.«
Mitte Januar lernten sie in der Schule das Briefeschreiben. Nachdem ihnen die Grundlagen eingebläut worden waren, musste jeder Schüler zwei Briefe schreiben, einen an einen Freund und einen an jemand anderen in der Klasse.
Der Brief, den Liesel von Rudi bekam, lautete folgendermaßen:
Liebes Saumensch, spielst du immer noch so mies Fußball wie letztes Mal, als wir gespielt haben? Ich hoffe es jedenfalls. Das heißt nämlich, dass ich wieder an dir vorbeiziehen kann, genauso wie J esse Owens bei den Olympischen Spielen...
Als Schwester Maria Wind davon bekam, stellte sie Rudi eine Frage, und zwar in ihrem freundlichsten Tonfall.
SCHWESTER MARIAS OFFERTE
»Ist Ihnen daran gelegen, mich auf den Gang hinauszubegleiten, Herr Steiner?«
Selbstverständlich lehnte Rudi das Angebot dankend ab. Der Brief wurde zerrissen und neu begonnen. Der zweite Versuch war an eine Person namens Liesel gerichtet und erfragte höflich ihre bevorzugten Freizeitaktivitäten.
Zu Hause entschied Liesel, während sie über den Brief nachdachte, den sie als Hausaufgabe schreiben sollte, dass es dämlich wäre, an Rudi oder an einen anderen Saukerl zu schreiben. Es wäre bedeutungslos. Als sie so im Keller saß und überlegte, sprach sie Papa an, der der Wand gerade einen neuen Anstrich verpasste.
Er wandte sich zu ihr herum, ebenso wie die flüchtigen Gase der Farbe. »Was willst
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