Die Bücherdiebin
du?« Was von jedem anderen grob geklungen hätte, war mit einer unendlichen Liebenswürdigkeit ausgesprochen.
»Könnte ich einen Brief an Mama schreiben?«
Stille.
»Wozu willst du ihr einen Brief schreiben? Du musst es doch von morgens bis abends mit ihr aushalten.« Papa schmunzelte. »Reicht das nicht?«
»Nicht an die Mama.« Sie schluckte.
»Oh.« Papa drehte sich wieder zur Wand um und arbeitete weiter. »Nun, ich denke schon. Du könntest ihn an... wie war doch gleich ihr Name? Du könntest ihn an die Frau schicken, die dich hierher gebracht und dich ein paar Mal besucht hat. Die von der Pflegestelle.«
»Frau Heinrich.«
»Richtig. Schick ihn ihr. Vielleicht kann sie ihn an deine Mutter weiterleiten.« Er klang wenig überzeugend, gerade so als ob er Liesel etwas verschweigen würde. Bei ihren kurzen Besuchen war Frau Heinrich stets sehr zugeknöpft gewesen, wenn die Sprache auf Liesels Mutter kam.
Statt ihn zu fragen, was los war, fing Liesel sofort an zu schreiben und beschloss, das unbehagliche Gefühl zu ignorieren, das sich in ihr auftürmte. Sie brauchte drei Stunden und sechs Anläufe, bevor sie den Brief fertig geschrieben hatte. Sie erzählte ihrer Mutter alles über Molching, ihren Papa und sein Akkordeon, über den merkwürdigen, aber wahrhaftigen Charakter von Rudi Steiner und die Heldentaten von Rosa Hubermann. Sie erklärte auch, wie stolz sie war, dass sie jetzt einigermaßen lesen und schreiben konnte. Am nächsten Tag klebte sie eine Briefmarke aus der Küchenschublade auf den Umschlag und gab ihn bei Frau Lindner im Laden auf. Dann fing sie an zu warten.
An dem Abend, als sie den Brief schrieb, belauschte sie ein Gespräch zwischen Hans und Rosa.
»Warum schreibt sie einen Brief an ihre Mutter?«, wollte Mama wissen. Ihre Stimme war überraschend ruhig und fürsorglich. Wie ihr euch vorstellen könnt, stimmte diese Tatsache Liesel äußerst besorgt. Sie hätte es vorgezogen, sie streiten zu hören. Flüsternde Erwachsene erwecken nur selten Vertrauen.
»Sie hat mich gefragt«, antwortete Papa, »und ich konnte einfach nicht Nein sagen. Wie hätte ich das fertigbringen sollen?«
»Jesus, Maria und Josef.« Wieder geflüstert. »Es wäre besser, sie würde sie einfach vergessen. Wer weiß, wo sie ist? Wer weiß, was sie mit ihr angestellt haben?«
Im Bett hielt Liesel sich fest umklammert. Sie rollte sich zusammen, dachte an ihre Mutter und wiederholte Rosa Hubermanns Fragen.
Wo war sie?
Was hatten sie mit ihr angestellt? Und überhaupt - wer waren sie?
tote briefe
Ein kurzer Ausblick in die Zukunft: Der Keller im September 1943.
Ein 14-jähriges Mädchen schreibt in ein kleines Buch mit dunklem Einband. Sie ist knochig, aber stark, und hat schon viel erlebt. Papa sitzt mit dem Akkordeon zu ihren Füßen.
Er sagt: »Weißt du, Liesel, ich hätte dir damals beinahe einen Antwortbrief geschrieben und ihn mit dem Namen deiner Mutter unterschrieben.« Er kratzte sich am Bein, wo der Gips gewesen war. »Aber ich konnte es nicht. Ich habe es nicht über mich gebracht.«
Oftmals während des restlichen Januars und des gesamten Februars des Jahres 1940, als Liesel jeden Tag in den Briefkasten schaute, ob ihre Mutter auf ihren Brief geantwortet hatte, wäre das Herz ihres Pflegevaters beinahe gebrochen. »Es tut mir so leid«, sagte er dann immer zu ihr. »Schon wieder nichts, was?« Im Nachhinein begriff sie, dass die ganze Sache sinnlos gewesen war. Wäre ihre Mutter dazu in der Lage gewesen, hätte sie längst Kontakt mit der Pflegestelle aufgenommen oder direkt mit Liesel und den Hubermanns. Aber das war nicht der Fall.
Ein Unglück folgte auf das andere: Mitte Februar wurde Liesel von den Pfaffelhürvers aus der Heidestraße ein Brief übergeben. Die beiden standen in voller Größe in ihrem Türrahmen und bedachten sie mit melancholischem Blick. »Für deine Mama«, sagte der Mann, als er ihr den Umschlag gab. »Sag ihr, dass es uns leid tut. Sag ihr, dass es uns leid tut.«
Der Abend im Hause Hubermann verlief nicht sonderlich erfreulich.
Selbst als sich Liesel in den Keller zurückzog, um den fünften Brief an ihre Mutter zu schreiben (wobei sie nur den ersten abgeschickt hatte), konnte sie Rosa »diese Arschlöcher«, die Pfaffelhürvers, und den elenden Ernst Vogel verfluchen hören.
»Feuer soll'ns' brunzen für einen Monat!«, schrie sie. Oder hochdeutsch: »Sie sollen einen Monat lang Feuer pissen.«
Liesel schrieb.
An ihrem Geburtstag bekam sie kein Geschenk.
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