Die Bücherdiebin
bestimmt. In euren Geschichten, euren Gedichten, auf den Bildschirmen, in die ihr so gerne seht. Sie sind überall, warum also nicht auch hier? Warum nicht hier oben, auf einem hübsch anzusehenden Hügel in einer deutschen Kleinstadt? Der Ort ist zum Leiden ebenso gut wie jeder andere.
Der Punkt ist, dass Ilsa Hermann beschlossen hatte, aus ihrem Leiden einen Triumph zu machen. Als die Qual sich weigerte, von ihr zu lassen, ergab sie sich ihr. Sie hieß sie willkommen.
Sie hätte sich erschießen, sich das Gesicht zerkratzen oder sich anderen grausamen Formen der Selbstverstümmelung hingeben können, aber sie wählte diejenige, die möglicherweise die schwächste von allen war - sie entschied, dass sie wenigstens die Unbequemlichkeit des Wetters ertragen müsse. Liesel hätte wetten können, dass sie sich nur kalte und nasse Sommertage wünschte. Und in dieser Beziehung lebte sie genau am richtigen Ort, meistens jedenfalls.
Als Liesel an diesem Tag das Haus des Bürgermeisters verließ, sagte sie etwas, mit großem Unbehagen. Vier große Worte lieferten sich einen Kampf, sprangen auf ihre Schulter und fielen als unordentliches Quartett vor Ilsa Hermanns Füße. Sie purzelten seitlich von Liesel herab, weil sich das Mädchen unter ihrer Last neigte und sie nicht länger halten konnte. Gemeinsam kauerten sie auf dem Boden, groß und laut und ungeschickt.
VIER GROSSE WORTE
Es tut mir leid.
Wieder betrachtete die Frau des Bürgermeisters den Platz neben dem Mädchen. Ihr Gesicht war so leer wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.
»Was denn?«, fragte sie, aber es war zu spät. Das Mädchen hatte den Raum bereits verlassen. Sie war schon fast bei der Haustür. Als sie die Worte hörte, blieb Liesel stehen, aber sie beschloss, nicht zurückzugehen, sondern sich stattdessen geräuschlos aus dem Haus und die Stufen hinab zu entfernen. Sie nahm den Anblick von Molching in sich auf, ehe sie selbst darin versank, und eine Zeit lang bemitleidete sie die Frau des Bürgermeisters.
Manchmal fragte sich Liesel, ob sie die Frau nicht besser in Ruhe lassen sollte, aber Ilsa Hermann war einfach zu interessant und die Anziehungskraft der Bücher zu groß. Früher waren Worte für Liesel nutzlos gewesen, aber jetzt, wenn sie auf dem Fußboden saß und die Frau des Bürgermeisters am Schreibtisch ihres Mannes, verspürte sie ein unwillkürliches Gefühl der Macht. Es kam jedes Mal über sie, wenn sie ein neues Wort entzifferte oder einen Satz zusammentrug.
Sie war ein Mädchen.
In Deutschland, unter Hitler.
Wie passend, dass sie die Macht der Worte entdeckte.
Und wie schrecklich (und doch so erregend!) würde es etliche Monate später sein, wenn sie die Macht dieser neuen Entdeckung in dem Augenblick freisetzte, in dem die Frau des Bürgermeisters sie im Stich ließ. Wie schnell sollte das Mitleid von ihr weichen, und wie schnell sollte es sich in etwas völlig anderes verwandeln!
Aber jetzt, im Sommer 1940, konnte sie nicht sehen, was vor ihr lag, in mehr als einer Hinsicht. Jetzt kannte sie eine trauererfüllte Frau mit einem Raum voller Bücher, den sie gerne aufsuchte. Das war alles. Dies war der zweite Teil ihres Sommerlebens.
Der dritte Teil wurde - Gott sei Dank - mit leichterem Herzen gelebt: Fußball auf der Himmelstraße.
Ich will euch ein Bild malen: Füße kratzen auf der Straße. Der Sturm von jugendlichem Atem. Gebrüllte Worte: »Hier! Hierher! Scheiße!« Das Aufprallen und Schaben des Balls auf Asphalt.
Sie alle waren da, in der Himmelstraße, genauso wie der Klang der Entschuldigungen, während der Sommer voranschritt.
Die Entschuldigungen gehörten Liesel Meminger. Geschenkt wurden sie Tommi Müller.
Anfang Juli gelang es ihr endlich, ihn davon zu überzeugen, dass sie ihn nicht umbringen wollte. Seit den Prügeln, die er im letzten November von ihr bezogen hatte, hatte Tommi Angst, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Während der Fußballspiele auf der Himmelstraße hielt er sich stets von ihr fern. »Man kann nie wissen, wann sie einen Anfall kriegt«, erklärte er Rudi im Vertrauen, halb zuckend, halb sprechend.
Zu Liesels Verteidigung muss gesagt werden, dass sie ihre Versuche, ihn zu beruhigen, nie aufgab. Sie war enttäuscht, dass es ihr zwar gelungen war, mit Ludwig Schmeikl Frieden zu schließen, aber nicht mit dem unschuldigen Tommi Müller. Er duckte sich immer noch leicht, wenn er sie sah.
»Wie hätte ich wissen sollen, dass du mich mit deinem Lächeln ermutigen wolltest?«, fragte sie ihn
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