Die Bücherdiebin
durchmaß er irgendwie das Zimmer von der Tür bis zum Bett und lag dann unter der Decke.
»Alles in Ordnung?«
Es war wieder Papa. Diesmal sprach er mit Max.
Die Erwiderung floss aus seinem Mund und klebte dann wie ein Fleck an der Decke. Solcherart war sein Gefühl von Scham. »Ja. Vielen Dank.« Er sagte es noch einmal, nachdem Papa es sich auf seinem üblichen Platz auf dem Stuhl neben Liesels Bett bequem gemacht hatte. »Vielen Dank.«
Es dauerte eine weitere Stunde, bis Liesel einschlief.
Sie schlief tief und fest.
Eine Hand weckte sie kurz nach halb neun am nächsten Morgen.
Die Stimme am anderen Ende erklärte ihr, dass sie heute nicht zur Schule gehen würde. Offenbar war sie krank.
Als sie schließlich vollends aufwachte, betrachtete sie den Fremden im Bett gegenüber. Unter der Decke lugte lediglich ein Nest aus schief geschnittenen Haaren hervor. Es war kein Laut zu hören, als ob er es sich angewöhnt hätte, sogar leiser zu schlafen als andere Menschen. Mit großer Behutsamkeit ging sie an ihm vorbei und folgte Papa in den Flur.
Zum ersten Mal überhaupt fand sie die Küche und Mama schlafend vor. Es war eine Art von verwirrter Stille vor dem Sturm. Zu Liesels Erleichterung dauerte sie nur wenige Minuten.
Dann stand das Essen auf dem Tisch. Die Geräusche der Mahlzeit zogen durch den Raum.
Mama verkündete die vordringliche Angelegenheit des Tages. Sie saß am Tisch und sagte: »Hör zu, Liesel. Papa wird dir heute etwas sagen.« Die Sache war ernst - sie nannte Liesel nicht einmal »Saumensch«. Es war eine persönliche Meisterleistung an Entsagung. »Er wird mit dir reden, und du wirst zuhören. Ist das klar?«
Das Mädchen schluckte noch.
»Ist das klar, Saumensch?«
Schon besser.
Das Mädchen nickte.
Als sie ihr Zimmer betrat, um ihre Kleidung zu holen, hatte sic h der Körper in dem anderen Bett umgedreht und zusammengerollt. Er war nicht länger ein gerader Strich, sondern bildete eine Art Z, wobei er sich von einer Ecke des Betts zur anderen erstreckte. Ein Zickzack quer über die Matratze.
Jetzt konnte sie sein Gesicht in dem müden Licht erkennen. Sein Mund stand offen, und seine Haut hatte die Farbe von Eierschalen. Bartstoppeln bedeckten seine Kiefer und sein Kinn, und seine Ohren waren hart und flach. Er hatte eine schmale, aber verbogene Nase.
»Liesel!«
Sie drehte sich um.
»Mach schon!«
Sie ging ins Badezimmer.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging sie in den Flur. Dort wurde ihr klar, dass sie gar nicht weit zu gehen hatte: Papa stand an der Kellertür. Er lächelte ganz leicht, zündete die Lampe an und ging ihr voraus nach unten.
Inmitten der Lumpenhaufen und des Geruchs nach Farbe bat Papa sie, es sich bequem zu machen. Im Licht der Lampe leuchteten die Worte an der Wand, gemalt und gelernt in einer früheren Zeit. »Ich muss mit dir über ein paar Dinge reden.«
Liesel hockte sich auf einen hohen Lumpenhaufen und Papa auf einen großen Farbtopf. Ein paar Minuten lang suchte er nach den richtigen Worten. Als er sie fand, stand er auf, um sie weiterzugeben. Er rieb sich die Augen.
»Liesel«, sagte er leise, »ich war nicht sicher, ob so etwas jemals passieren würde, daher habe ich dir nie etwas davon erzählt. Über mich. Über den Mann oben in deinem Zimmer.« Er durchmaß den Keller mit langen Schritten. Das Licht ließ seinen Schatten größer erscheinen. Es verwandelte ihn in einen Riesen, der an der Wand auf und ab ging.
Als er stehen blieb, lauerte sein Schatten turmhoch hinter ihm und schaute zu. Irgendjemand schaut immer zu.
»Du kennst ja mein Akkordeon«, sagte er, und so fing die Geschichte an.
Er redete über den Ersten Weltkrieg und über Erik Vandenburg, dann über seinen Besuch bei der Witwe des gefallenen Kameraden. »Der Junge, der an diesem Tag ins Zimmer kam, ist der Mann, den wir jetzt bei uns haben. Verstehst du?«
Die Bücherdiebin saß da und lauschte Hans Hubermanns Erzählung. Es dauerte eine gute Stunde, bis der Moment der Wahrheit da war, der eine unübersehbare und bedeutsame Mahnung nach sich zog.
Sie hatten die Gesichter zur Wand gerichtet. Dunkle Schatten und das Begreifen von Worten.
Fest hielt er ihre Finger in seinen Händen.
»Erinnerst du dich an den Geburtstag des Führers? Als wir nach dem Feuer nach Hause gingen? Weißt du noch, was du mir versprochen hast?«
Das Mädchen nickte. Den Blick immer noch zur Wand gerichtet, sagte sie: »Dass ich ein Geheimnis bewahren werde.«
»Stimmt genau.« Zwischen den sich
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