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Die Bücherdiebin

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Titel: Die Bücherdiebin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Zusak
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Kinn. Walter Kugler ging zu Boden. Sein blondes Haar war mit Dreckkrumen gesprenkelt. Seine Beine lagen lang und abgespreizt da. Tränen wie Kristalle flössen über seine Haut, obwohl er gar nicht weinte. Die Tränen waren aus ihm herausgeprügelt worden.
    Der Kreis zählte.
    Sie zählten immer, nur für den Fall. Stimmen und Zahlen.
    Die Tradition verlangte, dass der Verlierer am Ende des Kampfes die Hand des Siegers erhob. Als Kugler endlich wieder aufstand, ging er auf wackeligen Beinen zu Max Vandenburg und hob seinen Arm in die Höhe.
    »Danke«, sagte Max zu ihm.
    Kugler antwortete mit einer Warnung. »Das nächste Mal bringe ich dich um.«
    Im Verlauf der Jahre kämpften Max Vandenburg und Walter Kugler insgesamt dreizehn Mal gegeneinander. Walter dürstete stets nach Rache für diesen ersten Sieg, den Max ihm gestohlen hatte, und Max versuchte, seinen Augenblick des Triumphs zu wiederholen. Am Ende stand es 10: 3 für Walter.
    Die Kämpfe gegeneinander dauerten bis 1933 an - bis sie beide siebzehn waren. Widerstrebender Respekt wandelte sich in echte Freundschaft, und das Verlangen, gegeneinander zu boxen, fiel von ihnen ab. Beide hatten Anstellungen, bis Max Ende 1935 gemeinsam mit allen anderen jüdischen Angestellten seine Arbeit in der Maschinenbaufabrik Jedermann verlor. Kurz zuvor waren die Nürnberger Gesetze in Kraft getreten, die es Juden untersagten, die deutsche Staatsbürgerschaft innezuhaben, und die Ehen zwischen Deutschen und Juden verboten.
    »Herrgott nochmal«, sagte Walter eines Abends, als sie sich auf dem kleinen Platz trafen, wo sie früher gekämpft hatten. »Das waren noch Zeiten, nicht wahr? Damals gab es diesen Irrsinn noch nicht. Heutzutage könnten wir niemals so kämpfen.«
    Max widersprach. »Doch, könnten wir. Du darfst zwar keine Jüdin heiraten, aber es gibt kein Gesetz, das dich daran hindert, einen Juden zu verprügeln.«
    Walter grinste. »Wahrscheinlich gibt es sogar eine Belohnung dafür - natürlich nur, wenn man gewinnt.«
    In den nächsten paar Jahren sahen sie sich nur noch gelegentlich. Max wurde wie alle Juden ständig abgewiesen und geschmäht, während Walter sich in seine Arbeit in der Druckerei vergrub.
    Wenn es euch interessiert: Ja, es gab auch Mädchen, die in diesen Jahren eine Rolle spielten. Eine hieß Tania, die andere Hildi. Keine von ihnen blieb lange. Die Unsicherheit und der wachsende Druck auf die jüdischen Gemeinden ließ ihnen keine Zeit. Max war ständig auf
    Arbeitssuche. Was konnte er einem Mädchen schon bieten? Als das Jahr 1938 anbrach, konnte er sich kaum vorstellen, dass das Leben noch schwieriger werden könne.
    Dann kam der 9. November. Kristallnacht. Die Nacht, in der alles zerbrach.
    Es war ein Ereignis, das für viele seiner jüdischen Kameraden Vernichtung bedeutete. Für Max Vandenburg allerdings bot sich die Gelegenheit zur Flucht. Er war zweiundzwanzig.

Viele jüdische Einrichtungen wurden systematisch zerstört und geplündert. An der Tür zu der Wohnung, in der Max und seine Familie lebten, klopfte es. Gemeinsam mit seiner Tante, seiner Mutter, den Vettern und Kusinen und ihren Kindern war Max im Wohnzimmer zusammengepfercht.
    »Aufmachen!«
    Die Familie betrachtete einander. Die Verlockung, sich in andere Räume zu flüchten, war groß, aber die Sorge ist eine merkwürdige Sache. Sie macht bewegungslos.
    Wieder: »Aufmachen!«
    Isaak stand auf und ging zur Tür. Das Holz schien lebendig zu sein, vibrierte immer noch von den Schlägen, die es gerade empfangen hatte. Er schaute zurück in Gesichter, die nackt vor Angst waren, drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete.
    Wie erwartet, stand ein Nazi vor ihm. In Uniform.
    »Niemals.«
    So lautete Max' erste Erwiderung.
    Er klammerte sich an die Hand seiner Mutter und an die von Sarah, einer seiner Kusinen. »Ich werde nicht gehen. Wenn wir nicht alle gehen, dann gehe ich auch nicht.«
    Es war eine Lüge.
    Als ihn seine Familie hinausschob, kämpfte sich die Erleichterung in ihm an die Oberfläche wie eine unanständige Geste. Es war ein Gefühl, das er nicht haben wollte, und doch empfand er es mit einem solchen Genuss, dass er sich am liebsten übergeben hätte. Wie konnte er? Wie konnte er nur?
    Aber er konnte.
    »Nimm nichts mit«, sagte Walter zu ihm. »Nur das, was du am Leibe trägst. Ich sorge für den Rest.«
    »Max.« Es war seine Mutter.
    Aus einer Schublade zog sie ein altes Stück Papier und stopfte es ihm in die Jackentasche. »Wenn du jemals...« Sie hielt ihn

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