Die Bücherdiebin
versteckt lag ein Lächeln.
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, verschwand er auch schon wieder unter die Erde.
DIE ZEITUNG: ANFANG MAI
»In meinem Keller ist ein Jude.«
»In meinem Keller. Ist ein Jude.«
Liesel saß auf dem Boden in der Bibliothek des Bürgermeisters und lauschte diesen Worten. Der Sack voller Wäsche stand neben ihr, und die geisterhafte Gestalt der Bürgermeistergattin saß über den Schreibtisch gebeugt. Vor ihren Augen las Liesel Der Pfeifer, und zwar die Seiten zweiundzwanzig und dreiundzwanzig. Sie schaute auf. Sie stellte sich vor, wie sie zu der Frau gehen, sanft ein bisschen von dem fusseligen Haar zur Seite schieben und ihr ins Ohr flüstern würde:
»In meinem Keller ist ein Jude.«
Das Buch in ihrem Schoß zitterte. Das Geheimnis saß in ihrem Mund, machte es sich dort gemütlich. Schlug die Beine übereinander.
»Ich gehe jetzt besser heim.« Diesmal sprach sie laut. Ihre Hände zitterten. Trotz des Schimmers von Sonnenschein in der Ferne trabte eine sanfte Brise durch das offene Fenster und trug Regen wie Sägemehl hinein.
Liesel stellte das Buch zurück, und der Stuhl der Frau ruckte gegen den Fußboden. Die Frau kam zu Liesel. So war es immer am Ende. Der zarte Kreis aus Sorgenfalten bebte einen Moment lang, während sie die Hand ausstreckte und das Buch wieder aus dem Regal holte.
Sie bot es Liesel an.
Liesel schreckte zurück.
»Nein«, sagte sie. »Danke, aber ich habe zu Hause genügend Bücher. Vielleicht ein andermal. Ich lese gerade ein anderes Buch mit Papa, schon zum zweiten Mal. Sie wissen schon, dasjenige, das ich an dem Abend aus dem Feuer gestohlen habe.«
Die Frau des Bürgermeisters nickte. Was immer man Liesel nachsagen mochte, sie stahl nicht unnötig. Sie tat es nur, wenn sie das Gefühl hatte, dass es nötig war. Derzeit hatte sie genug. Sie hatte Die Menschen aus Lehm vier Mal gelesen und genoss die erneute Begegnung mit dem Schulterzucken. Und jede Nacht, bevor sie schlafen ging, öffnete sie die Anleitung zum Gräbergraben. Wohl verwahrt zwischen den Seiten lag Der Überstehmann. Sie formte die Worte stumm mit ihrem Mund und berührte die Vögel. Sie wendete die geräuschvollen Blätter. Langsam.
»Auf Wiedersehen, Frau Hermann.«
Sie verließ die Bibliothek, ging über den Dielenboden des Flurs und durch die monströse Eingangstür hinaus. Wie es ihre Gewohnheit war, stand sie eine Weile auf den Stufen und betrachtete das vor ihr liegende Molching. An diesem Nachmittag war die Stadt von gelbem Dunst bedeckt, der über die Dächer streichelte, als wären sie Haustiere. Der Dunst füllte die Straßen wie eine Badewanne.
Als sie in die Münchener Straße kam, wich die Bücherdiebin den mit Regenschirmen bewaffneten Menschen nach rechts und links aus - ein Mädchen in einer Regenjacke, das schamlos von einem Mülleimer zum nächsten wanderte. Wie ein Uhrwerk.
»Da!«
Sie lachte die kupfernen Wolken an und feierte ihren Fund, ehe sie hineingriff und die zerknitterte Zeitung herausholte. Obwohl die Vorder- und Rückseite mit schwarzen Tränen aus Druckerschwärze beschmiert waren, faltete das Mädchen die Zeitung sorgfältig zusammen und steckte sie sich unter den Arm. So machte sie es seit ein paar Monaten jeden Donnerstag.
Donnerstag war mittlerweile der einzige Tag, an dem Liesel Meminger Wäsche austrug oder abholte, und es verging kaum ein Donnerstag, der ihr nicht den einen oder anderen Nutzen brachte. Sie schaffte es nie, das Gefühl eines Sieges zu unterdrücken, wenn sie eine Ausgabe des Molchinger Abendblatts oder einer anderen Zeitung fand. Eine Zeitung bedeutete einen guten Tag. Wenn es eine Zeitung war, in der das Kreuzworträtsel noch nicht gelöst worden war, war es sogar ein großartiger Tag. Sie kam nach Hause, schloss die Tür hinter sich und brachte die Zeitung zu Max Vandenburg in den Keller.
»Kreuzworträtsel?«, fragte er dann.
»Leer.«
»Ausgezeichnet.«
Der Jude lächelte, nahm den Packen Papier entgegen und fing in dem bescheidenen Licht des Kellers an zu lesen. Oft beobachtete Liesel ihn dabei, wie er sich auf das Lesen konzentrierte, das Kreuzworträtsel löste und dann die Zeitung erneut durchlas, von vorne bis hinten.
Als es wärmer wurde, blieb Max die ganze Zeit im Keller. Tagsüber ließ man die Kellertür offen, um ein kleines Rinnsal aus Tageslicht aus dem Flur nach unten zu lassen. Der Flur selbst war nicht gerade lichtdurchflutet, aber in bestimmten Situationen nimmt man, was man kriegen kann.
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