Die Bücherdiebin
Gedämpftes Licht war besser als gar keines, und es war nötig, sparsam zu sein. Das Kerosin war zwar noch nicht so weit zur Neige gegangen, dass Grund zur Besorgnis bestanden hätte, aber es war besser, es nur dann herzunehmen, wenn es unbedingt nötig war.
Gewöhnlich setzte sich Liesel auf ein paar Lumpen. Sie las, während Max sich über das Kreuzworträtsel beugte. Sie hatten ein paar Meter zwischen sich, redeten sehr selten, sodass oft einzig das Geräusch der Seiten zu hören war, die umgeblättert wurden. Oft ließ sie Max ihre Bücher da, während sie in der Schule war. Hans Hubermann und Erik Vandenburg hatte die Musik verbunden; Max und Liesel wurden zusammengeschweißt durch das stille Ansammeln von Wörtern.
»Hallo, Max.«
»Hallo, Liesel.«
Und dann saßen sie da und lasen.
Manchmal beobachtete sie ihn. Sie dachte sich, dass er am besten als ein Bild bleicher Konzentration zu beschreiben sei. Beigefarbene Haut. Ein Sumpf in jedem Auge. Und er atmete wie ein Flüchtling. Verzweifelt und doch lautlos. Es war nur seine Brust, die verriet, dass er am Leben war.
Immer öfter bat Liesel Max, die Wörter abzufragen, die sie immer noch falsch schrieb. Sie schloss die Augen und fluchte jedes Mal, wenn ihr wieder ein Fehler beim Buchstabieren unterlief. Dann stand sie auf und malte die Wörter an die Wand, irgendwohin, manchmal ein Dutzend Mal. Gemeinsam atmeten Max Vandenburg und Liesel Meminger den Duft von Lösungsmittel und Zement ein.
»Auf Wiedersehen, Max.«
»Auf Wiedersehen, Liesel.«
Im Bett lag sie dann wach und stellte sich ihn unten im Keller vor. In diesen Visionen schlief er stets vollständig bekleidet, einschließlich der Schuhe, für den Fall, dass er fliehen musste. Er schlief. Ein Auge war geschlossen. Das andere wachsam.
WETTERBERICHT: MITTE MAI
Liesel öffnete gleichzeitig die Tür und ihren Mund.
Auf der Himmelstraße hatte ihre Mannschaft die von Rudi vernichtend mit 6: 1 geschlagen. Triumphierend stürzte sie in die Küche und erzählte Mama und Papa von dem Tor, das sie geschossen hatte. Dann sauste sie weiter in den Keller, um dort die ganze Geschichte noch einmal vorzutragen, Wort für Wort. Max legte die Zeitung zur Seite und lauschte und lachte mit dem Mädchen.
Als Liesel geendet hatte, herrschte einige Minuten lang Stille. Dann schaute Max langsam auf. »Würdest du mir einen Gefallen tun, Liesel?«
Immer noch erregt von dem Tor, sprang das Mädchen auf. Sie musste nichts sagen; ihre Körpersprache versicherte ihm wortlos, dass sie alles tun würde, was er verlangte.
»Du hast mir alles über das Tor erzählt«, sagte er, »aber ich weiß nicht, was für ein Tag da oben ist. Ich weiß nicht, ob du in der Sonne getroffen hast oder ob die Wolken alles verdeckt haben.« Seine Hand schob und zog an seinem kurz geschorenen Haar, und seine sumpfigen Augen baten um das Einfachste aller einfachen Dinge. »Würdest du hinaufgehen und mir dann sagen, wie das Wetter ist?«
Selbstverständlich eilte Liesel die Stufen hinauf. Sie stand ein paar Meter von der mit Spucke befleckten Tür entfernt, schaute in den Himmel und drehte sich dabei um die eigene Achse.
Dann kehrte sie in den Keller zurück und erzählte ihm alles.
»Der Himmel ist heute blau, Max, und da oben hängt eine große, lang gezogene Wolke, die aussieht wie ein Seil. Am Ende hängt die Sonne wie ein gelbes Loch...«
Max war sich darüber im Klaren, dass nur ein Kind ihm einen solchen Wetterbericht geben konnte. An die Wand malte er ein langes, fest geknüpftes Seil mit einer daran herabhängenden Sonne, in die man gerne hineingesprungen wäre. Auf das Wolkenseil malte er zwei Gestalten -ein dünnes Mädchen und einen ausgemergelten Juden -, die mit weit ausgebreiteten Armen darauf balancierten und auf die purzelnde Sonne zugingen. Unter das Bild schrieb er einen Satz.
WORTE AN DER WAND, VON MAX VANDENBURG GESCHRIEBEN
Es war Montag, und sie tanzten auf einem Seil zur Sonne.
DER FAUSTKÄMPFER: ENDE MAI
Max Vandenburg hatte den kühlen Zement und viel Zeit. Minuten waren grausam. Stunden eine Strafe.
Über ihm stand während aller wachen Momente die Hand der Zeit, und sie zögerte nicht, ihn gnadenlos auszuwringen. Sie lächelte und drückte und ließ ihn am Leben. Welch grenzenlose Boshaftigkeit in der Gnade des Überlebens liegen kann!
Wenigstens ein Mal am Tag kam Hans Hubermann in den Keller und führte ein Gespräch mit Max. Von Zeit zu Zeit brachte Rosa ihm eine übrig gebliebene Brotkruste. Aber es
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