Die Bücherdiebin
der Wand. Liesel konnte kaum das Geräusch seines Atems hören, der in hineinströmte und wieder herausfloss. Sie öffnete das Buch und blätterte ein paar Seiten um .
Verängstigt durch das, was sie sah, legte Liesel das Buch zurück, genau so, wie sie es vorgefunden hatte, an Max' Bein gelehnt.
Eine Stimme schreckte sie auf.
»Danke schön«, sagte die Stimme, und als sie mit den Augen der Spur des Klangs zu ihrem Besitzer folgte, erkannte sie einen zufriedenen Ausdruck auf den jüdischen Lippen.
»Meine Güte«, keuchte Liesel, »hast du mich erschreckt, Max.«
Er kehrte zu seinem Schlaf zurück. Hinter ihm zog das Mädchen den Gedanken hinter sich die Treppe hoch.
Du hast mich erschreckt, Max.
der pfeifer und die schuhe
Dieses Muster zog sich bis zum Ende des Sommers und in den Herbst hinein. Rudi tat sein Bestes, um die Hitlerjugend zu überstehen. Max machte Liegestütze und Skizzen. Liesel fand Zeitungen und schrieb Worte an die Kellerwand.
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass jedes Muster zumindest einen kleinen Fehler aufweist und irgendwann über sich selbst stolpert oder kippt. In diesem Fall war Rudi der Auslöser, oder besser gesagt: Rudi und ein frisch gedüngter Sportplatzrasen.
Es war Ende Oktober, und alles schien wie immer zu sein. Ein schmutziger Junge ging durch die Himmelstraße. In ein paar Minuten würde seine Familie seine Heimkehr erwarten, und er würde lügen, dass jeder in der Hitlerjugend einen Extradrill auf dem Sportplatz über sich hätte ergehen lassen müssen. Seine Eltern würden sogar erwarten, dass er darüber lachte. Sie begriffen es nicht.
Heute aber waren Rudi die Lügen und das Gelächter ausgegangen.
An diesem besonderen Dienstag sah Liesel, als sie genauer hinschaute, dass Rudi Steiner kein Hemd trug. Und vor Wut kochte.
»Was ist passiert?«, fragte sie, als er vorübertrottete.
Er kehrte um und hielt ihr sein Hemd entgegen. »Riech mal«, sagte er.
»Was?«
»Bist du taub? Ich sagte, riech mal.«
Zögernd beugte sich Liesel vor und erschnupperte den ekelhaften Hauch, der von dem braunen Kleidungsstück ausging. »Jesus, Maria und Josef. Ist das...?«
Der Junge nickte. »Es klebt auch an meinem Kinn. An meinem Kinn! Ich kann von Glück sagen, dass ich das Zeug nicht geschluckt habe!«
»Jesus, Maria und Josef«.
»Der Sportplatz beim HJ-Haus ist frisch gedüngt.« Er bedachte sein Hemd mit einem weiteren halbherzigen, angeekelten Blick. »Ich glaube, es ist Kuhmist.«
»Hat dieser... wie heißt er doch gleich? ... Hat dieser Deutscher das gewusst?«
»Er sagt Nein. Aber er hat dabei gegrinst«.
»Jesus, Maria und...«
»Könntest du bitte damit aufhören!«
Was Rudi in diesem Moment brauchte, war ein Sieg. Er hatte das Geplänkel mit Viktor Chemmel verloren. Er hatte eine Niederlage nach der anderen bei der Hitlerjugend eingesteckt. Alles, was er wollte, war ein klitzekleiner Triumph, und er war entschlossen, ihn sich zu holen.
Er setzte seinen Heimweg fort, aber als er die Eingangsstufen erreichte, änderte er seine Meinung und ging langsam und entschlossen zu dem Mädchen zurück.
Behutsam und leise fragte er: »Weißt du, was mich aufheitern würde?«
Liesel zuckte zusammen. »Wenn du glaubst, dass ich dich... in diesem Zustand!«
Er schien von ihr enttäuscht zu sein. »Nein, nicht das.« Er seufzte und kam näher. »Etwas anderes.« Nach einem Moment des Nachdenkens hob er den Kopf, nur ein kleines Stück. »Schau mich an. Ich bin dreckig. Ich rieche nach Kuhscheiße oder Hundescheiße oder was auch immer, und wie üblich habe ich einen Bärenhunger.« Er verstummte und sprach dann weiter. »Ich muss mal wieder gewinnen, Liesel. Ehrlich.«
Da verstand Liesel.
Sie wäre näher gekommen, wenn er nicht so schrecklich gestunken hätte.
Stehlen.
Sie mussten etwas stehlen. Nein.
Sie mussten etwas zurückstehlen. Egal was. Es musste nur bald geschehen.
»Diesmal nur du und ich«, sagte Rudi. »Kein Chemmel, kein Schmeikl. Nur du und ich.«
Das Mädchen konnte sich nicht helfen.
Ihre Hände juckten, ihr Puls spaltete sich, und ihr Mund lächelte, alles gleichzeitig. »Hört sich gut an.«
»Also abgemacht.« Und obwohl er es unterdrücken wollte, stahl sich ein frisch gedüngtes Grinsen auf sein Gesicht, das Wurzeln schlug und austrieb. »Morgen?«
Liesel nickte. »Morgen.«
Ihr Plan war perfekt, bis auf eine Kleinigkeit.
Sie hatten keine Ahnung, wie sie es anstellen sollten.
Obst kam nicht infrage. Rudi rümpfte die Nase bei dem
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