Die Bücherdiebin
ihr?«
Es ist völlig in Ordnung, wenn man sich selbst über Familienmitglieder beklagt, wenn man über sie herzieht und sie kritisiert, aber wehe, es tut jemand anderes! In diesem Moment stellt man sich hin, strafft die Schultern und beweist absolute Loyalität.
»Stimmt irgendwas nicht mit ihr?«, fragte Liesel und berief sich auf ihr uneingeschränktes Recht, zu einer Familie zu gehören.
Rudi machte einen Schritt rückwärts. »Tut mir leid, Saumensch. Ich wollte dich nicht beleidigen.«
Selbst im Schimmer der Nacht sah Liesel, dass Rudi erwachsen wurde. Sein Gesicht wurde länger. Der blonde Haarschopf verdunkelte sich ganz leicht, und seine Züge schienen ihre Form zu verändern. Aber es gab etwas, das sich nie ändern würde. Man konnte ihm unmöglich lange böse sein.
»Gibt's heute Abend bei dir was Gutes zu essen?«, fragte er. »Wohl kaum.«
»Bei mir auch nicht. Schade, dass man Bücher nicht essen kann. Arthur Berg hat mal so was Ähnliches gesagt. Weißt du noch?«
Während des restlichen Heimwegs schwelgten sie in Erinnerungen an die gute alte Zeit. Liesel schaute oft hinunter auf den grauen Einband und den schwarz geprägten Titel des Buches. Der Pfeifer.
Ehe sie in ihren jeweiligen Häusern verschwanden, blieb Rudi einen Augenblick lang stehen und sagte: »Mach's gut, Saumensch.« Er lachte. »Gute Nacht, Bücherdiebin.«
Es war das erste Mal, dass sie so genannt wurde, und sie konnte die Tatsache nicht verbergen dass es ihr sehr gefiel. Wie wir - ihr und ich - wissen, hatte sie schon früher Bücher gestohlen, aber im Oktober 1941 wurde es offiziell. In dieser Nacht wurde Liesel Meminger wahrhaftig zur Bücherdiebin ernannt.
drei dummheiten von rudi steiner
RUDI STEINER, DAS GENIE
1 . Er stahl dem Gemüsehändler Mamer die größte Kartoffel.
2. Er legte sich auf der Münchener Straße mit Franz Deutscher an.
3. Er ließ die Hitlerjugend sausen.
Der Anlass zu Rudis erster Tat war die reine Gier. Es war ein ganz normaler trüber Nachmittag Mitte November 1941.
Er hatte sich geschickt unter die Frauen mit den Lebensmittelmarken gemischt, mit einer gewissen kriminellen Begabung, würde ich sagen. Er blieb fast völlig unbemerkt.
Dann entschied er sich ausgerechnet für die größte Kartoffel in der Kiste - diejenige, auf die etliche Leute in der Schlange ihr Augenmerk gerichtet hatten - und bemächtigte sich ihrer. Alle schauten zu, wie eine dreizehnjährige Faust die Kartoffel packte. Ein Chor aus schwergewichtigen Helgas und Mariannes zeigte mit den Fingern auf ihn, und Thomas Mamer stürzte sich auf das Früchtchen.
»Meine Erdäpfel!«
Die Kartoffel befand sich immer noch in Rudis Händen (sie war so groß, dass er beide Hände brauchte, um sie festzuhalten), und die Frauen versammelten sich um ihn wie eine Schar Ringkämpfer. Jetzt war Geistesgegenwart gefragt.
»Meine Familie«, erklärte Rudi. Ein Strom aus klarer Flüssigkeit begann günstigerweise genau in diesem Moment aus seiner Nase zu tropfen. Er wischte ihn bewusst nicht weg. »Wir sind am Verhungern. Meine Schwester braucht einen neuen Mantel. Der letzte wurde uns gestohlen.«
Mamer war kein Narr. Er hielt Rudi am Kragen gepackt und fragte: »Und du wolltest ihr einen Mantel aus Kartoffelschalen nähen, was?«
»Nein, mein Herr.« Rudi schaute schräg in Mamers eines Auge, das er von seiner gequetschten Position aus sehen konnte. Mamer war ein Fass von einem Mann, und seine Augen wirkten wie zwei kleine Einschusslöcher. Seine Zähne waren bissig wie um einen Ball rangelnde Fußballspieler. »Wir haben alle unsere Marken vor drei Wochen gegen einen neuen Mantel eingetauscht, und jetzt haben wir nichts zu essen.«
Der Gemüsehändler hielt nun Rudi in der einen Hand und die K artoffel in der anderen. Er rief das gefürchtete Wort seiner Frau zu. »Polizei.«
»Nein«, flehte Rudi, »bitte.« Später erzählte er Liesel, dass er kein bisschen Angst gehabt hätte, aber in Wirklichkeit stand in diesem Augenblick sein Herz kurz vor dem Zerspringen, da bin ich mir sicher. »Keine Polizei. Bitte, keine Polizei.«
»Polizei.« Mamer blieb unbeeindruckt, obwohl der Junge sich wand und sich mit der Luft einen Boxkampf lieferte.
An diesem Nachmittag stand auch ein Lehrer in der Schlange. Herr Link gehörte zu den Personen an der Schule, die weder Nonnen noch Priester waren. Rudi entdeckte ihn und verschränkte seinen Blick mit dessen Augen.
»Herr Link.« Das war seine letzte Chance. »Herr Link, sagen Sie's ihm, bitte.
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