Die Bücherdiebin
Sagen Sie ihm, wie arm wir sind.«
Der Gemüsehändler schaute den Lehrer fragend an.
Herr Link trat vor. »Es stimmt, Herr Mamer. Der Junge ist arm. Er wohnt in der Himmelstraße.« Die Kundenschar, die hauptsächlich aus Frauen bestand, fing an, leise miteinander zu murmeln. Alle wussten, dass die Himmelstraße nicht gerade der Inbegriff des idyllischen Molchinger Lebens war. Im Gegenteil: Es war eine ärmliche Gegend. »Er hat acht Geschwister.«
Acht!
Rudi musste sich ein Lächeln verkneifen, obwohl er immer noch nicht aus dem Schneider war. Wenigstens hatte er den Lehrer so weit gebracht, dass er für ihn log. Er hatte es geschafft, die Steiner-Familie um drei Kinder zu bereichern.
»Er kommt oft ohne Pausenbrot in die Schule.« Und wieder murmelten die Frauen. Ihre säuselnden Stimmen waren wie ein Anstrich, der der Situation mehr Wirksamkeit und Atmosphäre verlieh.
»Darf er deshalb meine Kartoffeln stehlen?«
»Und noch dazu die größte!«, mischte sich eine der Frauen schrill ein. »Seien Sie still, Frau Metzing«, warnte Mamer, und sie verstummte.
Zuerst war alle Aufmerksamkeit auf Rudi und die Faust in seinem Nacken gerichtet. Dann wechselte sie hin und her - von dem Jungen zu der Kartoffel zu dem Gemüsehändler. (Vom attraktivsten Anblick zum hässlichsten ...) Was genau Herrn Mamer dazu veranlasste, Rudi laufen zu lassen, wird auf ewig ein Rätsel bleiben.
War es der jammervolle Ausdruck im Gesicht des Jungen?
Die würdevolle Haltung von Herrn Link?
Die schrille Stimme von Frau Metzing?
Was immer es auch war, Mamer ließ die Kartoffel in die Kiste fallen und schob Rudi aus derr Laden. Draußen verpasste er ihm einen Tritt mit seinem rechten Stiefel und sagte: »Lass dich hier nicht mehr blicken.«
Von draußen schaute Rudi zu, wie Mamer sich hinter die Theke stellte und seine nächste Kundin bediente, mit Gemüse und Sarkasmus gleichermaßen: »Ich bin neugierig, welche Kartoffel Sie haben wollen«, sagte er und beobachtete gleichzeitig mit einem Auge den Jungen vor dem Laden.
Für Rudi war es eine weitere Niederlage. Die zweite Dummheit war ähnlich gefährlich, allerdings aus einem anderen Grund.
Rudi ging aus dieser Situation mit einem blauen Auge, angeknacksten Rippen und einem neuen Haarschnitt hervor.
Tommi Müller hatte bei einem Hitlerjugend-Treffen mal wieder Probleme, und Franz Deutscher wartete nur darauf, dass Rudi sich einmischte. Er musste nicht lange warten.
Rudi und Tommi wurden zu einem weiteren außerplanmäßigen Drill verdonnert, während die anderen nach drinnen gingen und in militärischer Taktik unterwiesen wurden. Während sie durch die Kälte rannten, sahen sie die warmen Köpfe und Schultern durch das Fenster. Selbst als sie sich wieder zu dem Rest der Gruppe gesellten, war die Strafmaßnahme noch nicht vorbei. Rudi ließ sich in eine Ecke fallen und schnippte Schlamm von seinem Ärmel gegen die Fensterscheibe. Franz feuerte die beliebteste Hitlerjugend-Frage auf ihn ab.
»Wann wurde unser Führer Adolf Hitler geboren?«
Rudi schaute hoch. »Wie bitte?«
Die Frage wurde wiederholt, und der sehr, sehr dumme Rudi Steiner, der genau wusste, dass es der 20. April 1889 war, antwortete mit dem Geburtsdatum von Jesus Christus. Er warf sogar den Ort, Bethlehem, als zusätzliche Information ein.
Franz rieb sich die Hände.
Ein sehr schlechtes Zeichen.
Er kam zu Rudi und befahl ihn nach draußen, wo er weitere Runden laufen sollte.
Rudi absolvierte sie alleine, und nach jeder Runde fragte ihn Franz wieder nach dem Geburtstag des Führers.
Es dauerte sieben Runden, bis Rudi die richtige Antwort gab.
Doch so richtig ging der Ärger erst einige Tage nach diesem Treffen los.
Rudi entdeckte Deutscher in der Münchener Straße, wie er mit ein paar Freunden den Bürgersteig entlangschlenderte, und verspürte das unbändige Verlangen, einen Stein nach ihm zu werfen. Ihr könnt ruhig fragen, was zum Teufel er sich dabei dachte. Die Antwort lautet: Wahrscheinlich gar nichts. Er würde vermutlich sagen, dass er sich seine von Gott gegebene Freiheit herausnahm, eine Dummheit zu begehen. Entweder das, oder der Anblick von Franz Deutscher verleitete ihn zu dem Wunsch, Selbstmord zu begehen.
Der Stein traf sein Ziel mitten auf dem Rückgrat, allerdings nicht so fest, wie Rudi gehofft hatte. Franz Deutscher wirbelte herum und schaute glücklich drein, als er ihn da stehen sah, mit Liesel, Tommi und Tommis kleiner Schwester Kristina.
»Lass uns weglaufen«, drängte Liesel,
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