Die Bücherdiebin
die Rippen. »Ist dieses Fenster«, flüsterte er, »tatsächlich offen?« Der Eifer in seiner Stimme lehnte sich aus seinem Mund wie ein Unterarm auf Liesels Schulter.
»Jawohl«, antwortete sie, »das ist es.«
Und wie ihr Herz zu hämmern begann!
Bei ihren früheren Besuchen, als sie das Fenster jedes Mal fest verschlossen vorgefunden hatten, hatte Liesels offensichtliche Enttäuschung die heftige Erleichterung in ihrem Herzen verborgen. Hätte sie den Mut gehabt, durch das Fenster zu steigen? Und weswegen wollte sie überhaupt dort hinein? Um Essen zu stehlen?
Nein, die widerwärtige Wahrheit sah folgendermaßen aus:
Lebensmittel waren ihr egal. Rudi spielte bei der ganzen Sache nur eine nebensächliche Rolle, auch wenn sie sich das nur schwer eingestehen konnte. Was sie wollte, war das Buch. Der Pfeifer. Sie konnte es nicht ertragen, dass diese einsame, erbärmliche Frau es ihr schenkte. Es zu stehlen schien ihr akzeptabler zu sein. Wenn sie es stahl, dann hatte sie irgendwie -merkwürdigerweise - das Gefühl, es sich verdient zu haben.
Das Licht wandelte sich zu Blöcken aus Schatten.
Die beiden näherten sich dem prächtigen, klobigen Haus, als würden sie davon angezogen werden. Kurz tauschten sie ihre Gedanken aus.
»Hunger?«, fragte Rudi.
Liesel erwiderte: »Bärenhunger.« Auf ein Buch.
»Schau mal - oben wurde gerade das Licht eingeschaltet.«
»Ich hab's gesehen.«
»Immer noch hungrig, Saumensch?«
Nervös lachten sie kurz auf, ehe sie besprachen, wer hineingehen und wer draußen bleiben und Wache stehen sollte. Als der männliche Teil der Operation meinte Rudi, dass er die Tat ausführen sollte, aber andererseits kannte sich Liesel hier aus. Sie war es, die hineingehen würde. Sie wusste, was sie auf der anderen Seite des Fensters erwartete.
Und sie sagte es auch. »Ich gehe.«
Liesel schloss die Augen. Fest.
Sie zwang sich, sich zu erinnern, zwang Bilder des Bürgermeisters und seiner Gattin vor ihr geistiges Auge. Sie betrachtete ihre zusammengeklaubte Freundschaft mit Ilsa Hermann und sorgte dafür, dass sie auch sah, wie sie in den Staub getreten und in der Gosse liegen gelassen wurde. Es funktionierte. Sie verabscheute diese Leute.
Sie schauten sich prüfend um und überquerten dann den Hof.
Jetzt kauerten sie unter dem Schlitz im Fenster des Erdgeschosses. Das Geräusch ihres Atems verstärkte sich.
»Komm«, sagte Rudi, »gib mir deine Schuhe. Dann machst du nicht so viel Lärm.«
Ohne Widerspruch schnürte Liesel die abgetragenen schwarzen Schuhe auf und ließ sie auf dem Boden stehen. Sie erhob sich, und Rudi öffnete das Fenster, vorsichtig, gerade so weit, das; Liesel hindurchsteigen konnte. Die Geräusche, die sie dabei verursachte, zogen über sie hinweg wie ein niedrig fliegendes Flugzeug.
Liesel hievte sich auf den Sims und schob sich ins Haus. Es war eine gute Idee gewesen, die Schuhe auszuziehen: Sie landete viel heftiger auf dem Holzboden als erwartet. Ihre Fußsohlen dehnten sich schmerzhaft, und die Wucht wanderte bis zu den Kanten ihrer Socken.
Der Raum war so wie immer.
In der staubigen Dämmerung schüttelte Liesel den Anflug von Nostalgie ab. Sie schlich vorwärts und wartete darauf, dass sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnten.
»Was ist los?«, flüsterte ihr Rudi mit scharfer Stimme von draußen zu, aber sie winkte ab, ohne sich umzudrehen, was so viel bedeuten sollte wie: »Halt's Maul!«
»Das Essen«, gemahnte er sie, »such nach dem Essen. Und Zigaretten, wenn s geht.«
Doch weder das eine noch das andere stand auf Liesels Liste. Sie war daheim, zwischen den Büchern des Bürgermeisters, die in allen möglichen Farben und Größen schimmerten, mit ihrer silbernen und goldenen Beschriftung. Sie konnte die Seiten riechen. Sie konnte fast die Worte schmecken, die um sie herum aufgestapelt waren. Ihre Füße trugen sie zu der Wand rechts von ihr. Sie wusste, wo das Buch stand, das sie wollte, kannte seine genaue Position - aber als sie dort ankam, war es nicht da. An seiner Stelle prangte eine Lücke im Regal.
Sie hörte, wie sich von oben Schritte näherten.
»Das Licht!«, flüsterte Rudi. Er schob die Worte durch das offene Fenster. »Es ist aus!«
»Scheiße!«
»Sie kommen runter.«
Den Worten folgte ein ellenlanger Moment, dann die Ewigkeit einer sekundenschnellen Entscheidung. Ihre Augen huschten durch den Raum, und da sah sie es. Der Pfeifer lag geduldig auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters.
»Beeil dich!«, warnte Rudi
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