Die Buecherfluesterin
Kapitel 1
I
ch hatte wirklich nicht mit dieser Wendung der Ereignisse gerechnet. Mein Exmann Rob hatte seinen Charme als Waffe eingesetzt, ohne sich darum zu kümmern, wem er damit das Herz brach– oder das Leben ruinierte. Es interessierte ihn auch nicht, in wessen Bett er aufwachte. Tja, Jasmine, pflegte meine Mutter zu sagen . Das ist eben ein amerikanischer Penis. Du hättest einen Bengalen heiraten sollen. Treu, gutmütig und traditionsgebunden. Ihre Worte lassen mich stets an einen bengalischen Penis, eingehüllt in die traditionelle churidar kurta denken, dessen Kopf bei unserer traditionellen indischen Hochzeit aus der mit Gold bestickten Seide ragt. Aber der Wunsch meiner Mutter wird niemals in Erfüllung gehen. Denn ich werde nicht wieder heiraten.
Da die Scheidung nun durch ist, brauche ich eine Auszeit von Los Angeles und von meinem auf Abwege geratenen Ex, den ich einmal für das Allergrößte gehalten habe. Ich stehe allein auf der Fähre nach Shelter Island, einem grünen Punkt, der sich in der regendurchtränkten Dunkelheit im Puget Sound abzeichnet. Draußen an Deck peitscht der Wind mein Haar und erinnert mich daran, dass ich noch lebe und die Kälte noch spüren kann. Auf dem Display meines Mobiltelefons leuchtet Roberts Nummer auf– die grünen Ziffern, die ich inzwischen zu hassen gelernt habe. Ich ignoriere den Anruf und lasse ihn in der tauben Gleichgültigkeit meiner Mailbox versickern. Soll sich Robert doch selbst um den Immobilienmakler und die Aasgeier kümmern, die sich auf unsere Eigentumswohnung stürzen wollen. Ich habe mich vorübergehend in die Einsamkeit geflüchtet.
Während wir uns der Insel nähern, taucht ihre Ostküste aus einer Nebelwand auf. Kiefern und Föhren wachsen in wildem Durcheinander bis hinunter zu den zerklüfteten Buchten der Steilküste. Bewaldete Hügel ragen in einen bleigrauen Himmel. Die Stadt Fairport mit ihren Altbauten und funkelnden Lichtern schmiegt sich in die Rundung des Hafens. Mein Herz klopft. Was mache ich eigentlich hier? Bald wird das inseltypische Moos zwischen meinen Fingern, in den Nasenlöchern und in den Taschen meines dünnen Regenmantels wuchern. In einer dieser Taschen steckt der Brief meiner Tante, ihre dringende Bitte, die mich nach Hause gerufen hat.
Obwohl wir mittlerweile im Zeitalter der E-Mails leben, schreibt sie mir lieber auf die altmodische Weise. Ich hole den Brief aus seinem Versteck und schnuppere am Papier– ein zarter Rosenduft. Bei jedem Entfalten riecht der Brief anders. Gestern war es Sandelholz. Vorgestern Jasmin. Doch der Text, festgehalten in der geneigten Schrift meiner Tante und in goldenen Buchstaben, bleibt immer derselbe:
Ich muss nach Indien. Ich brauche dich, damit du während meiner Abwesenheit den Buchladen führst. Nur du kannst das.
Als ich sie anrief, um sie nach dem Grund zu fragen, antwortete sie, sie müsse in Kalkutta etwas für ihre Gesundheit tun. Sie hat nichts weiter hinzugefügt. Und wie kann ich meiner alten, gebrechlichen Tante etwas abschlagen? Außerdem hat sie mir einen Zufluchtsort bei den Klassikern angeboten. Dabei hatte ich seit Jahren nicht mehr die Zeit, Romane zu lesen. Die Gründe dafür verbergen sich in meiner überdimensionalen Handtasche. Eine zusammengerollte Ausgabe des Forbes Magazine, ein BlackBerry und ein Netbook. Die Technologie zerrt schwer an meinem Schulterriemen. Außerdem habe ich kaum noch Platz für die üblichen Utensilien: Puderdose, Lippenstift, Aspirin, Allergietabletten, Kreditkarten, Quittungen und einen Schlüsselbund, an dem auch der zum Fitnessraum in der Firma hängt. Kein einziger Roman. Aber was habe ich zu verlieren? Es kann doch eigentlich nicht so schwer sein, die neue Nora Roberts oder Mary Higgins Clark zu verkaufen?
Einen Monat in einem Buchladen auf der Insel herumzusitzen ist nur ein kleines Opfer, das ich für meine geliebte Tante bringe. Außerdem habe ich etwas zum Arbeiten dabei, damit mir nicht langweilig wird, wie zum Beispiel einige Berichte der Anwaltskammer, die ich aus zeitlichen Gründen noch nicht gelesen habe.
Als die Fähre andockt, reißt mir ein Windstoß den Brief meiner Tante aus der Hand. Das rosafarbene Papier flattert ins Wasser, und für einen Moment leuchtet ihre Handschrift im Abendlicht. Dann löst sie sich in kleine Pünktchen auf, während der Brief untergeht. Ich überlege, ob ich ihm nachspringen soll– schließlich wäre ertrinken eine willkommene Erlösung von meiner Niedergeschlagenheit. Aber der Ruf
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