Die Burg der Könige
würde sie es den Männern gönnen, sie weinen zu sehen.
Agnes wusste nicht, was sie mehr entsetzte: die Tatsache, dass Pater Tristan offenbar im Sterben lag, oder Mathis’ Verrat. Sie hatte gewusst, dass er sich den Rebellen angeschlossen hatte, doch niemals hätte sie erwartet, ihn hier unter Mördern und Brandschatzern anzutreffen. Wenn Mathis früher über die Ungerechtigkeit und den baldigen Aufstand der Bauern geredet hatte, hatte das immer so unschuldig geklungen; nun sah sie, was es wirklich bedeutete – Mord, Raub und ein zerstörtes Land. Konnte sie sich so in ihm getäuscht haben?
Doch dann fiel ihr ein, dass all diese Zweifel ohnehin schon bald keine Rolle mehr spielten. Die Bauern würden sie umbringen, um sich an ihrem Gemahl zu rächen. Todesangst ergriff langsam von ihr Besitz. Als sie die kalten, zugigen Gänge des Klosters betrat, wurde ihr kurz schwarz vor Augen. Sie taumelte, und Mathis fing sie auf.
»Geht es dir …«, fing er an, doch Agnes stieß ihn weg.
»Lass mich in Ruhe!«, fauchte sie. »Und rühr mich nie wieder an!«
Mathis trat erschrocken zur Seite, und die beiden Wachmänner feixten.
»Schau an, das Turteltäubchen pickt und beißt«, sagte Jannsen und hieb seinem Kameraden in die Seite. »Na, das werden wir ihr schon bald ausgetrieben haben.«
Paulus lachte grob, er gab Agnes einen Schubs, und sie taumelte weiter durch die Klostergänge, vorbei am verwüsteten Refektorium und einigen der Mönchszellen. Noch immer pochte ihre Schulter von dem Sturz, die Wunde an ihrer Stirn hörte nicht auf zu bluten. Ein einziger Gedanke hielt Agnes im Grunde noch aufrecht: Wenn sie schon sterben sollte, wollte sie vorher wenigstens noch erfahren, was ihre Träume bedeuteten und wer diese Constanza war. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass das Schicksal dieser Frau auf eine seltsame Weise mit ihrem eigenen verknüpft war.
Schließlich hatten sie die Tür zum Krankenzimmer erreicht. Paulus trat dagegen, krachend schwang die Pforte auf. Ein beißender Geruch nach Weihrauch, Kräutern und Fäkalien drang Agnes in die Nase. Das Zimmer war soeben ausgeräuchert worden, in dem vernebelten Raum waren die wackligen Liegen nur undeutlich zu erkennen. Ein paar der verletzten Bauern sahen erschrocken auf.
»Wo ist der Mönch?«, wollte Jannsen wissen.
Eine der Klostermägde deutete zaghaft in eine Ecke, in der im Räucherdunst ein einzelnes Bett stand. Die Gestalt darauf war zierlich und so dürr wie eine Vogelscheuche.
»Pater Tristan!«, rief Agnes und wollte bereits auf das Bett zueilen. Doch Jannsen packte sie fest an der Schulter.
»Nicht so schnell, Täubchen«, knurrte er. »Da wollen wir schon dabei sein, wenn du dein Herz ausschüttest.«
»Das ist eine Beichte, du Schafskopf! Hast du das vergessen?« Ulrich Reichhart schob den verdutzten Wachmann auf den Ausgang zu. »Wenn noch ein Funken christlicher Anstand in euch glimmt, dann lasst uns nach draußen gehen und dort warten.«
Tatsächlich begaben sich die vier Männer vor die Tür, und Agnes näherte sich allein dem Bett in der Ecke. Mit klopfendem Herzen kniete sie sich hin und hielt Pater Tristans faltige Hand, die kalt war wie der Tod. Die Weihrauchschwaden hüllten sie beide ein, so dass der Rest des Raumes im Zwielicht verschwand.
»Pater«, flüsterte Agnes. »Könnt Ihr mich hören?«
Pater Tristan hatte die Augen geschlossen. Jetzt erst öffnete er sie und blickte Agnes lächelnd an. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr seinen spröden Lippen.
»Wusste ich doch, dass Gott meine Bitten erhören würde«, murmelte er. »Sag, Mädchen, hast du den Brief erhalten?«
Agnes runzelte die Stirn. »Welchen Brief, Pater?«
Ein Hustenanfall schüttelte den alten Mann. Er spuckte Blut, das auf das weiße Laken tropfte.
»Ich … ich habe dir einen Brief geschrieben«, keuchte er schließlich. »Im Scriptorium. Er ist sehr wichtig. Ich habe viel zu lange gezögert, dir von allem zu erzählen. Ich … ich wollte dich schützen. Doch es ist aussichtslos. Die Hebamme Elsbeth Rechsteiner hat mir erzählt, dass sie hinter dir her sind. Du musst fliehen, Agnes! Verlass die Burg so schnell wie möglich!«
»Die Hebamme?« Agnes schüttelte den Kopf. »Fliehen? Ich verstehe nicht …« Die Gedanken kreisten wie Schmetterlinge durch ihren Kopf. So viel hatte sie von Pater Tristan wissen wollen, und nun tauchten nur immer neue Rätsel auf.
»Ich habe einen Fetzen aus der alten Chronik gefunden«, begann sie zögerlich. »Zwei
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