Die Burg der Könige
Er blickte sich hastig um. Wo war sie überhaupt? Und wo um Himmels willen war der Graf? Seine Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als er Friedrich von Scharfeneck irgendwo im Mittelschiff wütend brüllen hörte. Im Dunkel des Doms sah Mathis nun, wie Agnes mit der Lanze zwischen den Säulen auf den Westausgang zulief. Offenbar versuchte sie zu flüchten.
Nicht zum Portal! , fuhr es Mathis durch den Kopf. Sie haben es verschlossen! Tu’s nicht! Du rennst in eine Falle!
Doch Agnes schlug einen Haken und rannte auf eine kleine Tür links des Ausgangs zu. Der Graf folgte ihr.
»Agnes!«, rief Mathis. »Warte auf mich!«
Im Bruchteil einer Sekunde hatte er sich entschieden, den schwerverletzten Melchior mit seinen beiden Gegnern alleinzulassen. Dabei war ihm klar: Sollte der Barde seinen Kampf verlieren, würden ihm und Agnes schon bald zwei sehr wütende Landsknechte folgen. Mit Friedrich waren es immer noch drei Gegner, allesamt gut bewaffnet. Trotzdem konnte Mathis Agnes nicht allein lassen.
Nicht mit diesem Wahnsinnigen!
Er stürzte auf die kleine Tür zu, durch die Agnes und Friedrich soeben verschwunden waren. Eine Treppe führte hinauf in den ersten Stock, von dort konnte er die hasserfüllten Schreie Friedrichs hören.
»Bleib stehen, du Biest! Die Lanze, gib mir die Lanze!«
Kurz darauf hatte Mathis einen großen Saal erreicht, in dem ein breiter Tisch und einige Stühle standen. Ansonsten war der Raum leer, abgesehen von einem Haufen Seile in einer Ecke. Mathis vermutete, dass die Seile zum Glockenturm gehörten, der irgendwo über ihm sein musste. Eine winzige Tür zur Rechten stand offen, von dort drang das Geräusch hastiger Schritte zu ihm.
»Agnes!«, schrie Mathis einmal mehr, und seine Stimme hallte laut durch das Gewölbe. »Agnes!«
Er durchquerte den Saal und eilte durch die Tür, hinter der eine schmale Holzstiege steil nach oben führte. In regelmäßigen Abständen kam er nun an offenen Fensterportalen vorbei, durch die kühle Nachtluft hereinwehte.
Wieder vernahm er Schritte, die nun mit einem Mal dumpfer klangen. Nach vielen weiteren Stufen stand Mathis an einer brusthohen Öffnung, die nach draußen in die Nacht führte. Über ihm ging die morsche Holztreppe weiter, vermutlich endete sie in der Spitze eines der vorderen Türme. Mathis lauschte, doch er konnte nichts mehr hören. Wohin waren die beiden verschwunden? Durch die Öffnung oder weiter hinauf in den Turm? Schließlich entschloss sich Mathis, durch den niedrigen Ausgang ins Freie hinauszutreten. Wären Agnes und der Graf im Turm, hätte er vermutlich noch ihre Stimmen gehört. Außerdem hatten die Schritte über ihm so dumpf wie auf Steinboden geklungen.
Böiger Wind zerzauste Mathis’ Haar, als er auf eine schmale Galerie trat, die nach links und rechts um den Dom herumführte. Armdicke Säulen waren in regelmäßigen Abständen angebracht, an denen er sich krampfhaft festklammerte. Der Gang hinter den Säulen war genau so breit, dass ein einzelner Mann dort entlanggehen konnte. Trotzdem wagte Mathis nicht, länger nach unten zu sehen. Schon ein kurzer Blick hatte genügt, um festzustellen, dass es bis zum Boden fast dreißig Schritt waren. Er hielt die Augen starr geradeaus gerichtet und überlegte verzweifelt, in welche Richtung er nun gehen sollte, als von rechts ein weiterer Schrei ertönte.
Es war Agnes, und sie hatte ganz eindeutig Todesangst.
Geduckt rannte Mathis hinter den Säulen entlang, während sich im Osten hinter der Vierungskuppel das erste matte Licht der Morgensonne zeigte. Empore, Türme und Dächer des Doms waren weiterhin in tiefe Dunkelheit getaucht.
Als Mathis um eine Ecke bog, tauchte nur wenige Schritte vor ihm plötzlich der Graf auf. Er stand an der Brüstung und blickte nach oben, wo sich zwischen den Torbögen der Galerie eine zitternde Gestalt an eine der dünnen Säulen klammerte, nur eine Handbreit vom Abgrund entfernt.
Agnes.
»Mein Gott«, flüsterte Mathis. »Nicht springen, nur das nicht!«
Entsetzt starrte er auf das kleine Bündel Mensch, das schon in wenigen Augenblicken vom Speyerer Dom stürzen würde.
Agnes versuchte, ihre Angst niederzukämpfen. Sie hatte mit einer Hand die Säule umfasst, die andere hielt das fleckige Tuch, in das die Heilige Lanze eingewickelt war. Ein kurzer Blick zeigte ihr, dass das schräge Schieferdach mehr als fünf Schritt unter ihr lag. Ihr wurde plötzlich übel.
Als die Landsknechte über Melchior und Mathis hergefallen waren, hatte
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