Die Chancellor
Lächeln versuchen,
»eine schöne Seele in einem elenden Körper, – die Seele
seiner armen Mutter, die starb, als sie ihm das Leben
gab.«
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»Er liebt Sie sehr.«
»Das gute Kind!« flüstert den Kopf senkend Mr. Le-
tourneur. »Oh«, fährt er dann fort, »Sie können es nicht
mitfühlen, was ein Vater leidet beim Anblick seines ge-
brechlichen, von Geburt auf gebrechlichen Kindes!«
»Mr. Letourneur«, erwiderte ich ihm, »bei dem Un-
glück, das Ihren Sohn betroffen hat, teilen Sie die Last
nicht ganz gerecht. Ohne Zweifel ist André tief zu be-
klagen, aber ist es denn gar nichts, von Ihnen so wie
er geliebt zu werden? Eine Körperschwäche erträgt sich
leichter, als ein Seelenleiden, und das letztere trifft Sie
doch ganz allein. Wiederholt beobachtete ich aufmerk-
sam Ihren Sohn, und wenn ihm irgend etwas nahegeht,
so glaube ich behaupten zu können, daß das nur Ihre
persönliche Bekümmernis ist . . .«
»Die ich ihm gegenüber stets verberge!« fällt mir Mr.
Letourneur schnell ins Wort. »Ich habe nur einen Le-
benszweck, den, ihm fortwährend Zerstreuung zu ver-
schaffen. Trotz seiner Schwäche erkannte ich an ihm
eine leidenschaftliche Reiselust. Sein Geist hat Füße,
nein, hat wirklich Flügel und schon seit mehreren Jah-
ren reisen wir zusammen. Erst besuchten wir ganz Eur-
opa, und eben jetzt kehren wir von einer Tour durch die
Hauptstaaten der Union zurück. Die Erziehung Andrés
habe ich, da ich ihn keiner öffentlichen Schule anver-
trauen wollte, selbst geleitet und jetzt vollende ich sie
durch Reisen. André besitzt lebendige Auffassung und
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glühende Phantasie. Er ist empfindsam, und manch-
mal bilde ich mir ein, daß er vergessen könne, wenn
ich seine Begeisterung für die großartigen Naturschau-
spiele sehe.«
»Ja, mein Herr . . ., gewiß . . .«, sage ich.
»Aber wenn er auch vergäße«, ergreift Mr. Letourneur
wieder das Wort und begleitet es mit einem bekräfti-
genden Händedruck, so vergesse ich nicht und werde
nie vergessen können. Glauben Sie wohl, mein Herr,
daß mein Sohn seiner Mutter und mir jemals vergeben
kann, ihm ein so elendes Leben geschenkt zu haben?«
Der Schmerz dieses Vaters, der sich wegen eines Un-
glücks anklagt, für das kein Mensch verantwortlich sein
kann, zerreißt mir das Herz. Ich will ihn trösten, doch
in dem Augenblick erscheint sein Sohn. Mr. Letourneur
läuft auf ihn zu und hilft ihm die etwas steile Treppe
zum Oberdeck hinauf.
Dort setzt sich André Letourneur auf eine der Bänke,
die unter einigen Hühnerkäfigen angebracht sind, und
sein Vater nimmt neben ihm Platz. Beide plaudern, und
ich mische mich in ihre Unterhaltung. Sie betrifft die
Fahrt der ›Chancellor‹, die Aussichten der Überfahrt an
Bord. Mr. Letourneur hat ebenso wie ich von Kapitän
Huntly einen mittelmäßigen Eindruck bekommen. Die
Unentschiedenheit dieses Mannes, seine etwas schläf-
rige Erscheinung hat ihn unangenehm berührt. Dage-
gen fällt Mr. Letourneur ein sehr günstiges Urteil über
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den zweiten Offizier, Robert Kurtis, einen wohlgebau-
ten Mann von 30 Jahren mit großer Muskelkraft, der
immer aktiv ist und dessen lebhafte Willenskraft sich
fortwährend in Handlungen auszudrücken sucht.
Robert Kurtis betritt eben jetzt das Verdeck. Ich fasse
ihn schärfer ins Auge und wundere mich, daß er mir
vorher noch nicht mehr aufgefallen ist. Da steht er in
straffer und doch ungezwungener Haltung, mit stolzem
Blick und wenig gerunzelten Augenbrauen. Ja, das ist
ein energischer Mann, der den kalten Mut wohl besit-
zen mag, der den wahren Seemann auszeichnen muß.
Gleichzeitig ist ihm ein gutes Herz eigen, denn er inte-
ressiert sich für den jungen Letourneur und sucht ihm
bei jeder Gelegenheit behilflich zu sein.
Nach Beobachtung des Himmels und einem Blick
über das Segelwerk nähert sich uns der zweite Offizier
und nimmt an der Unterhaltung teil.
Ich sehe, daß der junge Letourneur gern mit ihm
spricht. Robert Kurtis teilt uns einiges über die Passa-
giere mit, zu denen wir noch nicht in nähere Beziehung
getreten sind.
Mr. und Mrs. Kear sind beide Amerikaner aus dem
Norden, die ihre Reichtümer der Ausbeutung der Öl-
quellen verdanken. Bekanntlich ist ja hierin überhaupt
die Ursache manches großen Vermögens in den Verei-
nigten Staaten zu suchen. Dieser Mr. Kear, ein Mann
von etwa 50 Jahren, dem man den »Parvenü« ansieht, ist
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ein
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