Die Chancellor
bis zu den Spitzen.
— 29 —
— 30 —
Mehrere Stunden lang hat man gegen diesen wahrhaf-
ten Sturmangriff des Tangs anzukämpfen, und später
muß die ›Chancellor‹ mit ihrem von Hydrophyten und
sonderbaren Lianen bedeckten Strickwerk mehr einem
wandelnden Wäldchen in einer ungeheuren Wiese ähn-
lich gesehen haben.
7
14. Oktober. – Endlich hat die ›Chancellor‹ das Pflan-
zenmeer verlassen und die Gewalt des Windes sich ver-
mindert, und wir kommen mit zwei gerefften Marsse-
geln rasch vorwärts.
Heute wurde die Sonne wieder sichtbar und leuch-
tet jetzt mit hohem Glanz. Es fängt allmählich an sehr
warm zu werden. Die Aufnahmen betreffs der Ortsbe-
stimmung ergeben 21 ° 33 ʹ nördlicher Breite und 50 °
17 ʹ westlicher Länge. Die ›Chancellor‹ ist also um mehr
als 10 Breitengrade nach Süden gesegelt.
Noch immer hält sie den südöstlichen Kurs!
Ich habe mir über dieses unbegreifliche Verfahren
von Kapitän Huntly Aufschluß zu verschaffen gesucht
und mehrere Male mit dem Befehlshaber gesprochen.
Hat er seinen klaren Verstand oder hat er ihn nicht? Ich
weiß es noch nicht. Im allgemeinen spricht er vernünf-
tig. Steht er unter dem Einfluß einer partiellen Verrückt-
heit, einer Geistesabwesenheit, die sich gerade bezüglich
— 31 —
seines Geschäfts äußert? Derartige Fälle wurden schon
wiederholt beobachtet. Robert Kurtis, mit dem ich da-
von spreche, hört mir nur sehr kühl zu. Der zweite Of-
fizier wiederholt seine frühere Aussage, daß er nicht das
Recht habe, seinen Kapitän abzusetzen, solange nicht
durch einen wohl konstatierten Akt des Wahnsinns der
Verlust des Schiffes drohe. Die Verantwortung für jenen
angedeuteten Schritt ist sehr ernst.
Gegen 8 Uhr abends bin ich in meine Kabine zurück-
gekehrt, habe beim Licht meiner Schwebelampe noch
eine Stunde gelesen und meinen Gedanken nachgehan-
gen, mich dann aber hingelegt und bin bald eingeschla-
fen.Einige Stunden später durch ein ungewohntes Ge-
räusch geweckt, höre ich schwere Tritte und lautes Ge-
spräch auf dem Verdeck. Die Mannschaft scheint eiligst
hin und her zu laufen. Was mag der Grund für diese
außergewöhnliche Bewegung sein? Wahrscheinlich
eine Veränderung der Segelstellung zur Änderung des
Schiffskurses . . . Doch nein, das ist’s wahrscheinlich
nicht, denn noch immer neigt sich das Schiff nach der
Steuerbordseite und folglich ist seine Richtung nicht
verändert worden. Die Bewegungen der ›Chancellor‹
sind jetzt keine heftigeren, es stürmt also nicht.
Am folgenden Morgen des 14. begebe ich mich schon
um 6 Uhr auf Deck und betrachte das Fahrzeug. An
Bord ist scheinbar nichts geändert. Wir segeln unter
— 32 —
Backbordhalsen mit den unteren Mars- und Focksegeln.
Die ›Chancellor‹ hält sich prächtig auf dem von der fri-
schen Brise etwas bewegten Meer. Ihre Geschwindigkeit
ist beträchtlich und kann jetzt nicht unter 11 Meilen*
betragen.
Bald erscheinen auch die beiden Herren Letourneur
auf dem Verdeck, ich helfe dem jungen Mann herauf-
steigen. Mit großem Wohlbehagen schlürft André die
belebende Morgenluft.
Ich frage die Herren, ob sie diese Nacht nicht durch
ein Geräusch geweckt worden seien, das eine gewisse
Bewegung an Bord verraten habe.
»Ich für meinen Teil nicht«, antwortete André Le-
tourneur, »ich habe in einem fort geschlafen.«
»Du schliefst ganz ruhig, liebes Kind«, sagte Herr
Letourneur, »ich bin jedoch auch durch das Geräusch,
von dem Mr. Kazallon spricht, munter gemacht worden.
Ich glaubte die Worte zu vernehmen: ›Schnell! Schnell!
Nach den Luken! Nach den Luken!‹«
»Um wieviel Uhr war das wohl?« fragte ich.
»Etwa um 3 Uhr morgens.«
»Und die Ursache dieses Geräuschs ist Ihnen unbe-
kannt geblieben?«
»Vollkommen, Mr. Kazallon, sie kann aber nur un-
* Seemeilen, 4 = 1 geographische Meile.
— 33 —
bedeutend gewesen sein, da niemand von uns aufs Ver-
deck gerufen worden ist.«
Ich fasse die Luken, die vor und hinter dem großen
Mast angebracht sind und nach dem Kielraum hinab-
führen, ins Auge. Wie gewöhnlich sind sie geschlos-
sen, doch fällt mir auf, daß sie sorgsam mit Pfortsegeln
überdeckt erscheinen, als habe man sie möglichst her-
metisch verschließen wollen. Warum ist das gesche-
hen? Hier liegt etwas zu Grunde, das ich mir nicht zu
erklären vermag. Robert Kurtis wird mir ohne Zweifel
darüber Aufschluß geben. Ich warte also, bis der
Weitere Kostenlose Bücher