Die Chancellor
ein
wachsamer Geist, der ganz und gar in ihren Augen zu
— 285 —
wohnen scheint, die ganz außerordentlich leuchten. Sie
lebt mehr im Himmel, als auf der Erde!
Auch der Hochbootsmann, der sonst eine so große
Energie zeigte, ist doch jetzt vollkommen erschlafft.
Man erkennt ihn nicht mehr. Sein Kopf sinkt ihm auf
die Brust, seine langen, knochigen Arme hängen schlot-
ternd herab, und spitz treten die Kniescheiben unter
seinen abgenutzten Beinkleidern hervor, – so sitzt er
unbeweglich in einem Winkel des Floßes und erhebt
kaum seine Augen. Wie unähnlich ist er Miss Herbey,
er, der nur in und mit dem Körper lebt, und dessen Be-
wegungslosigkeit so vollkommen ist, daß ich manchmal
auf den Gedanken komme, er sei schon gestorben.
Kein Wort, keinen Seufzer mehr hört man auf dem
Floß. Rings herrscht Grabesruhe. Nicht zehn Silben
werden den Tag über gewechselt, und die wenigen
Worte, die unsere vertrockneten und verhärteten Lip-
pen hätten aussprechen können, wären nicht einmal zu
verstehen gewesen. Das Floß trägt nur noch blasse, blut-
lose Gespenster, die nichts Menschliches mehr an sich
haben!
51
24. Januar. – Wo sind wir? Nach welchem Teil Amerikas
zu wurden wir verschlagen? Zweimal habe ich Robert
Kurtis darüber gefragt, doch vermochte er mir keine
— 286 —
bestimmte Antwort darauf zu geben. Da er jedoch die
Richtung der Strömungen und der Winde immer aufge-
zeichnet hat, glaubt er, daß wir im ganzen weiter nach
Westen, also auf Land zu, getrieben seien.
Heute zeigt die Luft gar keine Bewegung, und den-
noch verrät die hohlgehende See, daß im Osten das
Wasser aufgeregt worden ist. Jedenfalls wird ein Sturm
über jene Teile des Atlantischen Ozeans hinweggebraust
sein. Das Floß arbeitet schwer, und Robert Kurtis, Fals-
ten und der Zimmermann setzen ihre letzten Kräfte da-
ran, seine Teile, die sich zu lockern drohen, sicherer zu
befestigen.
Warum bemühen sie sich noch damit? Möchten
diese Planken doch endlich auseinanderweichen und
der Ozean uns verschlingen! Es ist zu viel, ihm unser
elendes Leben noch abringen zu wollen.
In Wahrheit haben unsere Qualen den höchsten Grad
erreicht, den Menschen wohl zu ertragen vermögen, und
unmöglich können sie noch über diesen hinausgehen!
Die Hitze ist ganz unausstehlich, der Himmel gießt ge-
schmolzenes Blei über uns aus. Der Schweiß läuft durch
unsere Lumpen, und diese Transpiration erhöht noch
unseren Durst. Nein, ich kann es nicht wiedergeben,
was ich empfinde. Die Worte gehen aus, wenn es gilt,
übermenschliche Qualen zu schildern.
Die einzige Möglichkeit, durch die wir uns früher
einige Erquickung zu verschaffen vermochten, ist uns
— 287 —
jetzt ebenfalls abgeschnitten. Niemand kann mehr da-
ran denken, sich zu baden, denn seit Jynxtrops Tod um-
ringen uns die Haie in ganzen Scharen.
Heute habe ich versucht, mir etwas trinkbares Was-
ser zu verschaffen, indem ich Meerwasser verdunstete.
Doch trotz der größten Geduld gelang es mir kaum, ein
Stück Leinenzeug anzufeuchten. Außerdem widerstand
der sehr abgenutzte Siedekessel dem Feuer nicht mehr,
schmolz zusammen, und ich war genötigt, die Opera-
tion einzustellen.
Der Ingenieur Falsten ist jetzt ebenfalls ganz gebro-
chen und wird uns höchstens um einige Tage überle-
ben. Wenn ich die Augen einmal aufschlage, sehe ich
ihn kaum mehr. Liegt er irgendwo unter Segeln, oder ist
er tot? Nur der energische Kapitän Kurtis steht auf dem
Vorderteil und lugt ins Weite. Wenn man sich vorstellt,
daß dieser Mann . . . noch Hoffnung hat!
Ich selbst strecke mich auf dem Boden aus und er-
warte den Tod. Je eher er kommt, desto willkommener
soll er mir sein!
Wie viele Stunden mir in dieser Weise verflossen sind
. . . ich weiß es nicht, doch ich höre ein gellendes Geläch-
ter, einer von uns muß wahnsinnig geworden sein!
Das Lachen verdoppelt sich. Ich erhebe den Kopf gar
nicht. Wozu auch? Einige unzusammenhängende Worte
erreichen dennoch mein Ohr.
»Eine Wiese! Eine Wiese! Grüne Bäume! Eine
— 288 —
Schenke unter den Bäumen! Schnell, schnell! Brannt-
wein her! Gin! Wasser! Eine Guinee für den Tropfen!
Ich bezahl’ es! Ich habe Gold, viel Gold!«
Armer Verblendeter! Für alle Reichtümer Alt-Eng-
lands könntest du jetzt keinen Tropfen Wasser erkau-
fen.Der Matrose Flaypol ist es, der von Delirien erfaßt
ausruft:
»Land! Da ist das Land!«
Dieses Wort hätte bei uns auch Tote erweckt. Ich
Weitere Kostenlose Bücher