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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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zweite
    Offizier an die Wache kommt, und halte meine eigenen
    Gedanken zunächst zurück, da es mir besser scheint, sie
    den Herren Letourneur jetzt nicht mitzuteilen.
    Der Tag verspricht schön zu werden, die Sonne ist
    prächtig und fast ganz dunstfrei aufgegangen. Ein gutes
    Vorzeichen. Noch sieht man über dem westlichen Ho-
    rizont die Sichel des Mondes, der vor 10 Uhr 57 nicht
    untergehen wird. In 3 Tagen werden wir letztes Viertel
    und am 24. Neumond haben. Ich schlage in meinem Ka-
    lender nach und sehe, daß an demselben Tag eine starke
    Springflut sein muß. Bei unserer Fahrt auf dem offenen
    Meer können wir freilich nichts davon wahrnehmen,
    an den Küsten aller Kontinente und Inseln aber wird
    das Phänomen merkwürdig zu beobachten sein, denn
    der Neumond muß die Wassermassen zu außergewöhn-
    licher Höhe emporheben.
    — 34 —
    Ich bin jetzt auf dem Oberdeck allein. Die Herren Le-
    tourneur sind zum Tee wieder hinabgegangen, und ich
    erwarte den zweiten Offizier.
    Um 8 Uhr beginnt die Wache Robert Kurtis’, der Leut-
    nant Walter ablöst, und ich gehe diesem mit einem Hän-
    dedruck entgegen.
    Noch ehe er mir guten Tag sagt, läßt Robert Kurtis
    seinen Blick über das Verdeck schweifen, und seine Au-
    genbrauen ziehen sich leicht zusammen. Dann beob-
    achtet er den Zustand des Himmels und die Takelage,
    um sich hierauf Leutnant Walter zu nähern.
    »Der Kapitän?« fragte er.
    »Ich sah ihn heute noch nicht.«
    »Nichts Neues?«
    »Nichts.«
    Dann unterhalten sich Robert Kurtis und Leutnant
    Walter einige Augenblicke mit leiser Stimme.
    Auf eine an ihn gerichtete Frage antwortet Walter mit
    einem verneinenden Zeichen.
    »Schicken Sie mir den Hochbootsmann herauf, Wal-
    ter«, ruft der zweite Offizier dem abgelösten Leutnant
    nach.
    Bald erscheint der Gerufene und Robert Kurtis stellt
    einige Fragen an ihn, auf die dieser mit leiser Stimme,
    aber mit Achselzucken antwortet. Auf den Wink des
    zweiten Offiziers läßt der Hochbootsmann durch die
    — 35 —
    Deckwache die Pfortsegel über der großen Luke neu be-
    gießen.
    Einige Augenblicke später nähere ich mich Robert
    Kurtis, und unser Gespräch dreht sich zunächst um un-
    wichtige Dinge. Da es mir scheint, als wolle der zweite
    Offizier nicht selbst auf den Gegenstand meines lebhaf-
    ten Interesses eingehen, sage ich zu ihm:
    »Ich bitte, Mr. Kurtis, was ist denn diese Nacht an
    Bord passiert?«
    Robert Kurtis betrachtet mich aufmerksam, gibt aber
    keine Antwort.
    »Ja«, fahre ich fort, »ich wurde durch ein ungewöhn-
    liches Geräusch geweckt, ebenso Mr. Letourneur; was
    ist geschehen?«
    »Nichts Besonderes, Mr. Kazallon«, erwidert Robert
    Kurtis, »eine falsche Steuerbewegung des Untersteuer-
    manns machte es plötzlich nötig, zu brassen, was eine
    gewisse Bewegung auf dem Verdeck veranlaßt haben
    mag. Bald war der Fehler wieder gut gemacht und die
    ›Chancellor‹ lief in ihrem gewohnten Kurs weiter.«
    Mir scheint, daß der sonst so offene Robert Kurtis
    diesmal nicht die Wahrheit gesagt hat.
    — 36 —
    8
    15. bis 18. Oktober. – Die Fahrt geht in genau derselben
    Weise weiter, der Wind hält sich aus Nordosten, und für
    jeden nicht tiefer Blickenden hat es den Anschein, als ob
    an Bord alles in bester Ordnung sei.
    Doch »es liegt etwas in der Luft«. Die Matrosen ste-
    cken die Köpfe zusammen und murmeln untereinander,
    schweigen aber bei unserer Annäherung. Wiederholt
    habe ich das Wort »Luke« gehört, das schon Mr. Letour-
    neur aufgefallen war.
    Was befindet sich nur im Kielraum der ›Chancellor‹,
    das so besondere Vorsicht nötig machen kann? Warum
    sind die Luken so luftdicht verwahrt? Wahrscheinlich
    könnte man, wenn eine aufständische Schiffsmann-
    schaft im Zwischendeck gefangengehalten würde, wohl
    keine strengeren Maßnahmen zu ihrer Bewachung er-
    greifen.
    Am 15., als ich auf dem Vorderkastell spazierenging,
    hörte ich den Matrosen Owen zu seinen Kameraden sa-
    gen:
    »Ihr anderen wißt es also, ich warte nicht, bis es zu
    spät ist. Jeder ist sich selbst der Nächste.«
    »Was willst du aber tun, Owen?« fragte ihn Jynxtrop,
    der Koch.
    »Ei nun!« hat der Matrose geantwortet, »die Schalup-
    pen sind doch nicht für Meerschweinchen erfunden!«
    — 37 —
    Das Gespräch wurde plötzlich unterbrochen, und ich
    konnte nicht mehr hören.
    Ist etwa eine Verschwörung gegen die Schiffsfüh-
    rung im Entstehen? Hat Robert Kurtis Vorzeichen einer
    Meuterei bemerkt? Den bösen Willen mancher Matro-
    sen

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