Die Chirurgin
nicht akzeptieren zu wollen. Er trug noch immer seinen Ehering, und ihr Foto stand noch immer auf seinem Schreibtisch. Rizzoli hatte miterlebt, wie die Ehen so vieler anderer Polizisten in die Brüche gegangen waren, hatte die Fotos immer neuer Frauen auf den Schreibtischen ihrer Kollegen auftauchen und wieder verschwinden gesehen. Doch auf Moores Schreibtisch stand immer nur Marys Foto. Ihr lächelndes Gesicht war aus dem Büro schon nicht mehr wegzudenken. Der heilige Thomas? Rizzoli schüttelte mit einem zynischen Lächeln den Kopf. Nein, wenn es auf der Welt irgendwelche echten Heiligen gab, dann waren sie todsicher keine Polizisten.
Der eine wollte, dass er lebte, die andere wollte, dass er starb, und jeder behauptete, ihn mehr zu lieben als der andere. Herman Gwadowskis Sohn und Tochter starrten einander über das Bett ihres Vaters hinweg an, und keiner der beiden war zum Nachgeben bereit.
»Du warst schließlich nicht derjenige, der sich um Dad kümmern musste«, sagte Marilyn. »Ich habe ihm Essen gekocht, ich habe sein Haus geputzt, ich habe ihn jeden Monat zum Arzt gebracht. Wann hast du ihn auch nur mal besucht? Du hattest doch immer was Besseres zu tun.«
»Herrgott noch mal, ich wohne in Los Angeles. Ich leite ein Unternehmen.«
»Du hättest wenigstens einmal im Jahr den Flieger nehmen können. Wäre das denn so schwer gewesen?«
»Jetzt bin ich ja schließlich hier.«
»Na prima. Der große Zampano schwebt ein, und der Tag ist gerettet. Vorher hast du dir nicht die Mühe gemacht, ihn zu besuchen, und jetzt willst du alles allein regeln.«
»Ich kann nicht glauben, dass du ihn einfach sterben lassen würdest.«
»Ich will nicht, dass er noch länger leidet.«
»Vielleicht willst du ja nur nicht, dass sein Bankkonto noch weiter schrumpft.«
Marilyns Gesichtsmuskeln strafften sich schlagartig. »Du fieses Schwein!«
Catherine konnte sich das nicht länger anhören. Sie unterbrach die beiden: »Das ist nicht der Ort für solche Diskussionen. Würden Sie bitte beide das Zimmer verlassen?«
Einen Augenblick lang beäugten Bruder und Schwester einander in feindseligem Schweigen, als sei es bereits ein Eingeständnis der Niederlage, als Erster den Raum zu verlassen. Dann stolzierte Ivan zur Tür hinaus, eine einschüchternde Erscheinung im maßgeschneiderten Anzug. Seine Schwester, die haargenau so aussah wie die erschöpfte Hausfrau aus der Vorstadt, die sie auch war, drückte ihrem Vater noch einmal die Hand und folgte ihrem Bruder.
Im Flur legte Catherine ihnen die grausamen Fakten dar.
»Ihr Vater liegt seit dem Unfall im Koma. Seine Nieren beginnen zu versagen. Wegen seiner langjährigen Diabetes waren sie bereits in ihrer Funktion beeinträchtigt, und das Unfalltrauma hat alles noch schlimmer gemacht.«
»Wie viel davon geht auf die Operation zurück?«, fragte Ivan. »Auf das Narkosemittel, das Sie ihm gegeben haben?«
Catherine unterdrückte die in ihr aufsteigende Wut und antwortete gelassen: »Er war bewusstlos, als er eingeliefert wurde. Anästhetika waren nicht im Spiel. Aber Gewebeverletzungen belasten nun einmal die Nieren, und seine versagen allmählich den Dienst. Außerdem haben wir Prostatakrebs diagnostiziert, der bereits in die Knochen gestreut hat. Selbst wenn er wieder aufwachen sollte, würden diese Probleme bleiben.«
»Sie wollen, dass wir ihn aufgeben, habe ich Recht?«
»Ich möchte nur, dass Sie noch einmal über seinen Behandlungsstatus nachdenken. Sollte sein Herz stehen bleiben, müssen wir ihn nicht wiederbeleben. Wir können ihn in Frieden gehen lassen.«
»Sie meinen, ihn einfach sterben lassen.«
»Ja.«
Ivan schnaubte verächtlich. »Ich will Ihnen mal was über meinen Vater sagen. Er ist keiner, der so schnell aufgibt. Und ich auch nicht.«
»Mein Gott, Ivan, hier geht es doch nicht um gewinnen oder verlieren!«, sagte Marilyn. »Es geht darum, wann man loslassen sollte.«
»Und wenn es darum geht, bist du ganz schnell dabei, was?«, sagte er und wandte sich zu ihr um. »Bei den ersten Anzeichen von Schwierigkeiten streckt die kleine Marilyn immer die Waffen und überlässt es Daddy, ihr aus der Patsche zu helfen. Also, mir hat er nie aus der Patsche geholfen.«
In Marilyns Augen schimmerten Tränen. »Es geht gar nicht um Dad, hab ich Recht? Es geht darum, dass du immer gewinnen musst.«
»Nein, es geht darum, dass er eine Chance bekommt, zu kämpfen.« Ivan sah Catherine an. »Ich will, dass alles für meinen Vater getan wird. Ich hoffe, dass
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