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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Mit dem Vergrößerungsglas studierte sie eine Großaufnahme vom Rumpf des Opfers. Durch das eingetrocknete Blut, das den Hals bedeckte, konnte sie gerade eben die Kette als feinen goldenen Strich erkennen; die beiden Anhänger waren verdeckt.
    Sie griff nach dem Telefon und rief das Büro des Leichenbeschauers an.
    »Dr. Tierney ist heute Nachmittag nicht im Haus«, sagte seine Sekretärin. »Kann ich etwas für Sie tun?«
    »Es geht um die Autopsie, die er letzten Freitag durchgeführt hat. Elena Ortiz.«
    »Ja?«
    »Das Opfer trug Schmuck, als es ins Leichenschauhaus eingeliefert wurde. Haben Sie den noch?«
    »Ich sehe mal nach.«
    Rizzoli wartete. Sie trommelte mit ihrem Bleistift auf den Schreibtisch. Die Wasserflasche stand direkt vor ihrer Nase, doch sie ignorierte sie standhaft. Ihr Zorn war der Erregung gewichen. Dem Hochgefühl des Jägers, der seiner Beute auf den Fersen ist.
    »Detective Rizzoli?«
    »Ich bin noch dran.«
    »Die Familie des Opfers hat die persönlichen Gegenstände in Empfang genommen. Ein Paar goldene Ohrstecker, eine Halskette und einen Ring.«
    »Wer hat dafür unterschrieben?«
    »Anna Garcia, die Schwester des Opfers.«
    »Vielen Dank.« Rizzoli legte auf und warf einen Blick auf ihre Uhr. Anna Garcia wohnte weit draußen in Danvers. Das bedeutete eine Fahrt durch den dichten Feierabendverkehr …
    »Wissen Sie, wo Frost ist?«, fragte Moore.
    Rizzoli blickte verblüfft auf und sah, dass er neben ihrem Schreibtisch stand. »Nein.«
    »Er ist nicht hier gewesen?«
    »Ich führe den Knaben nicht an der Leine.«
    Eine Pause trat ein. Dann fragte er: »Was ist das denn?«
    »Die Tatortfotos vom Fall Ortiz.«
    »Nein. Ich meine das Ding in der Flasche.«
    Sie sah erneut auf und blickte in sein fragendes Gesicht.
    »Wonach sieht es denn aus? Es ist ein Tampon, was sonst? Irgendwer in dieser Abteilung hat einen wirklich subtilen Sinn für Humor.« Demonstrativ starrte sie Darren Crowe an. Der unterdrückte ein Kichern und wandte sich ab.
    »Ich werde mich darum kümmern«, sagte Moore und nahm die Flasche.
    »He. He! «, fuhr sie ihn an. »Verdammt noch mal, Moore. Vergessen Sie’s!«
    Er ging hinüber in Lt. Marquettes Büro. Durch die gläserne Trennwand sah sie, wie Moore die Flasche mit dem Tampon auf Marquettes Schreibtisch stellte. Marquette drehte sich um und schaute in Rizzolis Richtung.
    Da haben wir’s wieder mal. Jetzt werden sie sagen, die humorlose Zicke kann noch nicht mal einen ordentlichen Scherz vertragen.
    Sie schnappte ihre Handtasche, raffte die Fotos zusammen und verließ das Büro.
    Sie hatte schon den Aufzug erreicht, als Moore nach ihr rief. »Rizzoli?«
    »Tragen Sie gefälligst nicht meine Kämpfe für mich aus, okay?«
    »Sie haben ja gar nicht gekämpft. Sie haben nur dagesessen mit diesem … Ding auf Ihrem Schreibtisch.«
    »Tampon. Können Sie das Wort nicht laut und deutlich aussprechen?«
    »Warum sind Sie wütend auf mich? Ich versuche doch nur, mich für Sie einzusetzen.«
    »Hören Sie mal, Sie heiliger Thomas, in der wirklichen Welt läuft es für die Frauen folgendermaßen: Ich reiche eine Beschwerde ein. Ich bin diejenige, die eins auf den Deckel kriegt. Es gibt eine Eintragung in meine Personalakte. Verträgt sich nicht mit den Jungs. Wenn ich mich noch einmal beschwere, ist mein Ruf zementiert. Rizzoli, die Heulsuse. Rizzoli, der Waschlappen.«
    »Sie lassen die anderen gewinnen, indem Sie sich nicht beschweren.«
    »Ich habe es auf Ihre Art versucht. Es funktioniert nicht. Also verzichten Sie darauf, mir einen Gefallen tun zu wollen, okay?« Sie warf ihre Handtasche über die Schulter und trat in den Aufzug.
    Kaum hatte die Tür sich zwischen ihnen geschlossen, da hätte sie am liebsten diese Worte zurückgenommen. Moore hatte diese brüske Zurechtweisung nicht verdient. Er war immer höflich gewesen, immer der perfekte Gentleman, und in ihrem Zorn hatte sie ihm den Spitznamen ins Gesicht geschleudert, den man ihm in der Truppe gegeben hatte: Der heilige Thomas. Der Polizist, der sich nie einen Fehltritt leistete, der nie fluchte und immer ruhig und besonnen blieb.
    Und dann waren da noch die traurigen Umstände seines Privatlebens. Zwei Jahre zuvor war seine Frau Mary mit einer Hirnblutung zusammengebrochen. Sechs Monate lang hatte sie im Koma dahingedämmert, doch bis zu dem Tag, an dem sie tatsächlich gestorben war, hatte Moore sich geweigert, die Hoffnung auf Besserung aufzugeben. Noch heute, anderthalb Jahre nach Marys Tod, schien er es

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