Die Chirurgin
Hände an. Moore beobachtete sie, und sein Zorn über das, was mit Catherine geschehen war, schwoll an. Über das, was Capra ihrer Seele entrissen hatte. Er fragte sich, wie sie wohl vor dem Überfall gewesen sein mochte. Herzlicher, freundlicher? Oder war sie immer schon so gewesen, so abgeschottet von jedem zwischenmenschlichen Kontakt, wie eine vom Frost überzogene Blüte?
Sie richtete sich gerade auf und zwang sich fortzufahren.
»Dort bin ich also Elena Ortiz begegnet. Natürlich kannte ich ihren Namen nicht. Ich sah immer nur ihren Screen Name, Posey 5.«
»Wie viele Frauen sind in diesem Chatroom?«
»Das variiert von Woche zu Woche. Manchmal scheiden welche aus, oder es kommen ein paar neue dazu. Manchmal sind wir nur zu dritt, aber auch schon mal zu zwölft.«
»Wie haben Sie davon erfahren?«
»Aus einer Broschüre für Vergewaltigungsopfer. Sie wird in Frauenkliniken und Krankenhäusern in der ganzen Stadt verteilt.«
»Die Frauen in diesem Chatroom stammen also alle aus Boston und Umgebung?«
»Ja.«
»Und hat Posey 5 den Chatroom regelmäßig aufgesucht?«
»Sie ist in den letzten zwei Monaten immer mal wieder aufgetaucht. Sie hat nicht viel gesagt, aber ich habe ihren Namen auf dem Bildschirm gesehen und so gewusst, dass sie da war.«
»Hat sie über ihre Vergewaltigung gesprochen?«
»Nein. Sie hat nur zugehört. Wir haben ihr immer mal wieder ein ›Hallo‹ geschickt, und sie hat uns auch gegrüßt. Aber sie wollte nicht über sich reden. Es war, als hätte sie Angst. Oder als ob sie sich einfach zu sehr schämte.«
»Sie wissen also nicht, ob sie tatsächlich vergewaltigt wurde.«
»Ich weiß es.«
»Woher?«
»Weil Elena Ortiz hier in der Notaufnahme behandelt wurde.«
Er starrte sie an. »Sie haben ihre Akte gefunden?«
Sie nickte. »Mir kam plötzlich der Gedanke, dass sie nach dem Überfall ärztliche Hilfe benötigt haben könnte. Dieses Krankenhaus ist von ihrer Wohnung aus das nächstgelegene. Ich habe in unserem Krankenhauscomputer nachgesehen. Darin ist der Name jedes einzelnen Patienten gespeichert, der in dieser Unfallstation behandelt wurde. Ihr Name war darunter.« Sie stand auf. »Ich zeige Ihnen ihre Unterlagen.«
Er folgte ihr aus dem Bereitschaftszimmer heraus und zurück in die Unfallstation. Es war Freitagabend, und die typischen Notfälle wurden eingeliefert. Da war einer, der den Start ins Wochenende zu heftig gefeiert hatte und sich mit zitternder Hand einen Eisbeutel an das zerschlagene Gesicht hielt. Und ein ungeduldiger Teenager, der das Wettrennen mit einer gelben Ampel verloren hatte. Die Armee der Opfer des Freitagabends, die mit blauen Flecken und blutigen Nasen hereingewankt kamen. Die Notaufnahme des Pilgrim Medical Center war eine der meistfrequentierten in Boston, und Moore hatte das Gefühl, sich durch das Zentrum des Chaos zu kämpfen, während er Krankenschwestern und Fahrtragen auswich und über eine frische Blutlache stieg.
Catherine führte ihn in das Archiv der Unfallstation, einen Raum von der Größe eines Wandschranks, dessen Wände mit Regalen voller Ringordner bedeckt waren.
»Hier werden die Aufnahmeprotokolle für eine gewisse Zeit aufbewahrt«, sagte Catherine. Sie griff nach einem Ordner mit der Aufschrift 7. Mai – 14. Mai. »Jedes Mal, wenn ein Patient in der Notaufnahme behandelt wird, wird ein Protokoll angelegt. Es ist gewöhnlich nicht länger als eine Seite und enthält die Stellungnahme des Arztes und die Behandlungsanweisungen.«
»Es wird also nicht für jeden Patienten eine Akte angelegt?«
»Wenn es sich nur um einen einmaligen Besuch in der Notaufnahme handelt, gibt es keine Krankenakte. Dann ist das Aufnahmeprotokoll die einzige Dokumentation. Die Protokolle werden nach einer Weile in das Hauptarchiv des Krankenhauses gebracht, wo sie eingescannt und auf Diskette gespeichert werden.« Sie schlug den Ordner für die Woche 7. bis 14. Mai auf. »Hier haben wir es.«
Er stand hinter ihr und sah ihr über die Schulter. Der Duft ihres Haars lenkte ihn für einen Augenblick ab, und er musste sich zwingen, seine Aufmerksamkeit dem Protokoll zuzuwenden. Das Aufnahmedatum war der 9. Mai, ein Uhr nachts. Name und Adresse der Patientin sowie die Abrechnungsmodalitäten standen in Maschinenschrift am Anfang der Seite; der Rest war mit Kugelschreiber geschrieben. Mediziner-Kurzschrift, dachte er, während er sich mühte, die Worte zu entziffern. Es gelang ihm nur beim ersten Absatz, den die Schwester geschrieben
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