Die Chirurgin
wurde gestört, abgelenkt durch die Angst, dass die Polizei ihn erwischen könnte. Er konnte nicht lange genug bleiben, um das Opfer sterben zu sehen.« Zucker machte eine Kunstpause. »Es wird nicht lange dauern, bis er erneut zuschlägt. Der Täter ist frustriert, und seine Anspannung wächst ins Unerträgliche. Und das bedeutet, dass er schon auf der Jagd nach einem neuen Opfer ist.«
»Oder vielleicht hat er es schon auserkoren«, bemerkte Moore. Was er dachte, war: Catherine Cordell.
Erste helle Streifen am Himmel kündigten die Morgendämmerung an. Moore hatte seit fast vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen, war den größten Teil der Nacht auf Hochtouren gelaufen und hatte sich dabei nur von Kaffee ernährt. Doch als er jetzt in den heller werdenden Himmel aufblickte, fühlte er nicht etwa Erschöpfung, sondern verstärkte Besorgnis und Beunruhigung. Es gab da eine Verbindung zwischen Catherine und dem Chirurgen, die ihm nicht klar war. Irgendeinen unsichtbaren Faden, der sie mit diesem Monster verknüpfte.
»Moore.«
Er drehte sich um und erblickte Rizzoli. Sofort bemerkte er ihren aufgeregten Blick.
»Die Abteilung Sexualdelikte hat gerade angerufen«, sagte sie. »Unser Opfer hat in letzter Zeit wirklich viel Pech gehabt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nina Peyton wurde vor zwei Monaten vergewaltigt.«
Die Nachricht traf Moore wie ein Schlag. Er dachte an die leeren Seiten in dem Terminkalender. Vor acht Wochen hatten die Eintragungen aufgehört. Das war der Zeitpunkt, als Nina Peytons Leben auf brutale Weise aus dem Gleis geworfen worden war.
»Gibt es eine Akte?«, fragte Zucker.
»Nicht nur das«, antwortete Rizzoli. »Es wurden auch Spuren gesichert.«
» Zwei Vergewaltigungsopfer?«, meinte Zucker. »Kann es wirklich so einfach sein?«
»Glauben Sie, dass der Vergewaltiger wiedergekommen ist, um seine Opfer zu töten?«
»Es muss mehr als nur ein Zufall sein. Zehn Prozent aller Vergewaltiger nehmen hinterher Kontakt mit ihren Opfern auf. Auf diese Weise dehnt der Täter die Qualen des Opfers aus. Und seine eigene Obsession.«
»Vergewaltigung als Vorspiel für Mord.« Rizzoli schnaubte angewidert. »Das ist ja prächtig.«
Moore kam plötzlich ein neuer Gedanke. »Sie sagten, die Spuren seien gesichert worden? Dann wurde wohl auch ein Abstrich gemacht?«
»Genau. DNS-Analyse folgt.«
»Wer hat den Abstrich gemacht? Ist sie in eine Notaufnahme gegangen?« Er war sich fast sicher, dass ihre Antwort lauten würde: im Pilgrim Hospital.
Aber Rizzoli schüttelte den Kopf. »Nein, nicht in die Notaufnahme. Sie ist in die Forest-Hill-Frauenklinik gegangen. Die ist hier ganz in der Nähe.«
An einer Wand im Wartesaal der Klinik hing ein Plakat mit einer vierfarbigen Darstellung des weiblichen Genitaltrakts, darüber die Worte: Die Frau: verblüffende Schönheit. Moore war zwar ebenfalls der Meinung, dass der Körper einer Frau ein Wunderwerk der Schöpfung sei, aber dennoch kam er sich wie ein schmutziger Voyeur vor, als er das detaillierte Schaubild anstarrte. Ihm fiel auf, dass einige der Frauen im Wartezimmer ihn beäugten wie Gazellen ein Raubtier, das sich in ihre Mitte geschlichen hatte. Dass er in Begleitung von Rizzoli war, schien an der Tatsache nichts zu ändern, dass sie in ihm den männlichen Eindringling sahen.
Er war erleichtert, als die Sprechstundenhilfe schließlich verkündete: »Sie hat jetzt Zeit für Sie, meine Herrschaften. Es ist die letzte Tür rechts.«
Rizzoli ging durch den Korridor voran, in dem weitere Plakate hingen: Zehn Anzeichen, dass Ihr Partner Sie missbraucht und Woran erkenne ich, dass es Vergewaltigung ist? Mit jedem Schritt hatte er das Gefühl, sich noch mehr mit männlicher Schuld zu beflecken, die an ihm hängen blieb wie Schmutz an seinen Kleidern. Rizzoli fühlte nichts dergleichen; sie war diejenige, die sich in vertrautem Gelände bewegte. In der Welt der Frauen. Sie klopfte an eine Tür, an der stand: Sarah Daly, medizinische Assistentin.
»Herein!«
Die Frau, die aufgestanden war, um sie zu begrüßen, war jung und sah ziemlich hip aus. Unter ihrem weißen Kittel trug sie Bluejeans und ein schwarzes T-Shirt; ihr Kurzhaarschnitt passte zu ihrem knabenhaften Aussehen und betonte ihre dunklen Augen und die feinen Wangenknochen. Aber es war der kleine goldene Ring in ihrem linken Nasenloch, von dem Moore kaum den Blick wenden konnte. Während des Gesprächs hatte er die meiste Zeit das Gefühl, sich mit diesem Ring zu unterhalten.
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher