Die Chirurgin
habe mir ihr Krankenblatt noch einmal angesehen, nachdem Sie angerufen hatten«, sagte Sarah. »Ich weiß definitiv, dass es einen Polizeibericht gegeben hat.«
»Wir haben ihn gelesen«, sagte Rizzoli.
»Und was ist der Grund für Ihren Besuch?«
»Nina Peyton wurde letzte Nacht überfallen. Ihr Zustand ist kritisch.«
Die erste Reaktion der Frau war schockierte Sprachlosigkeit, die aber sehr rasch in Zorn mündete. Moore erkannte es an der energischen Kopfbewegung und dem Funkeln ihrer Augen. »Hat er das getan?«
»Er?«
»Der Mann, der sie vergewaltigt hat?«
»Das ist eine Möglichkeit, mit der wir rechnen«, antwortete Rizzoli. »Leider liegt das Opfer im Koma und kann uns nichts sagen«.
»Nennen Sie sie nicht »das Opfer«. Sie hat schließlich einen Namen.«
Rizzolis Gesichtszüge spannten sich nun ebenfalls an, und Moore wusste, dass sie sauer war. Das Gespräch fing nicht gerade optimal an.
»Ms. Daly, wir haben es hier mit einem unglaublich brutalen Verbrechen zu tun, und wir brauchen…«
»Nichts ist unglaublich«, gab Sarah zurück. »Nicht, wenn wir darüber sprechen, was Männer Frauen antun.« Sie nahm eine Mappe von ihrem Schreibtisch und hielt sie Moore hin. »Ihr Krankenblatt. Am Morgen, nachdem sie vergewaltigt wurde, ist sie in diese Klinik gekommen. Ich war diejenige, die sich an diesem Tag um sie gekümmert hat.«
»Haben Sie sie auch untersucht?«
»Ich habe alles selbst gemacht. Das Gespräch, die Beckenuntersuchung. Ich habe die Vaginalabstriche gemacht und unter dem Mikroskop das Vorhandensein von Sperma festgestellt. Ich habe das Schamhaar ausgekämmt und Fingernagelproben genommen. Und ihr die Pille danach verabreicht.«
»Sie ist nicht noch für weitere Tests in die Notaufnahme gegangen?«
»Wenn eine vergewaltigte Frau zu uns kommt, wird sie in diesem Gebäude rundum versorgt und betreut, und zwar von einer Person. Das Letzte, was sie in dieser Situation gebrauchen kann, ist eine Parade unvertrauter Gesichter. Ich nehme also das Blut ab und schicke es ins Labor. Ich erledige die notwendigen Anrufe bei der Polizei. Wenn die betroffene Frau das will.«
Moore schlug die Mappe auf und erblickte den Bogen mit den Patientendaten. Hier waren Nina Peytons Geburtsdatum, Adresse, Telefonnummer und Arbeitgeber aufgeführt. Er blätterte um und stieß auf eine Seite, die in einer kleinen, engen Handschrift ausgefüllt war. Das Datum der ersten Eintragung war der 17. Mai.
Diagnose: Vergewaltigung.
Fallbericht: 29-jährige Weiße, glaubt vergewaltigt worden zu sein. War gestern Abend auf ein paar Drinks im Gramercy Pub und fühlte sich plötzlich schwindlig. Erinnert sich noch, zur Toilette gegangen zu sein. Hat keinerlei Erinnerungen an die folgenden Ereignisse …
»Sie wachte zu Hause auf, in ihrem eigenen Bett«, sagte Sarah. »Sie wusste nicht mehr, wie sie heimgekommen war. Konnte sich nicht erinnern, sich ausgezogen zu haben. Ganz bestimmt erinnerte sie sich nicht, ihre eigene Bluse zerrissen zu haben. Aber da lag sie nun, splitternackt. Ihre Oberschenkel waren mit einer klebrigen Substanz verkrustet, die sie für Sperma hielt. Ein Auge war angeschwollen, und an beiden Handgelenken hatte sie Blutergüsse. Sie konnte sich ziemlich schnell zusammenreimen, was passiert war. Und sie zeigte dieselbe Reaktion wie viele andere Vergewaltigungsopfer. Sie dachte: ›Es ist meine Schuld. Ich hätte besser aufpassen sollen.‹ Aber so ist das mit uns Frauen.« Sie sah Moore direkt in die Augen. »Wir geben uns für alles die Schuld, auch wenn es der Mann ist, der die Frauen fickt.«
Angesichts des Zorns, der aus ihr sprach, wusste er nichts zu erwidern. Er sah auf das Krankenblatt herab und las das Untersuchungsprotokoll.
Die Patientin ist unordentlich gekleidet, wirkt verschlossen und spricht mit monotoner Stimme. Sie ist ohne Begleitung und ist von ihrer Wohnung zu Fuß in die Klinik gegangen …
»Sie hat immer nur von ihren Autoschlüsseln geredet«, sagte Sarah. »Sie war grün und blau geschlagen, ein Auge war zugeschwollen, und sie konnte an nichts anderes denken als daran, dass sie ihre Autoschlüssel verloren hatte und dass sie sie finden musste, um zur Arbeit fahren zu können.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich sie aus dieser Endlosschleife herausreißen und dazu bewegen konnte, mit mir zu sprechen. Dieser Frau war nie irgendetwas wirklich Schlimmes zugestoßen. Sie hatte eine abgeschlossene Ausbildung und war finanziell unabhängig. Sie arbeitete bei
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