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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Antwort.
    »Nina?«
    »Er hat die Lampe auf mein Gesicht gerichtet. Er hat sie direkt in meine Augen gerichtet, sodass ich ihn nicht sehen konnte. Ich konnte nur dieses grelle Licht sehen. Und er hat mich fotografiert.«
    »Und dann?«
    Sie sah ihn an. »Dann war das Licht wieder aus, und er war weg.«
    »Er hat sie im Haus allein gelassen?«
    »Nicht allein. Ich konnte hören, wie er umherging. Und den Fernseher – die ganze Nacht habe ich den Fernseher gehört.«
    Das Muster hat sich geändert, dachte Moore. Er und Frost tauschten ungläubige Blicke aus. Der Chirurg war dreister geworden. Furchtloser. Anstatt das Tötungsritual innerhalb weniger Stunden abzuschließen, hatte er es hinausgezögert. Die ganze Nacht und den folgenden Tag über hatte er seine Beute gefesselt auf dem Bett liegen lassen, um sie über ihr bevorstehendes Martyrium nachsinnen zu lassen. Ohne sich um die Risiken zu kümmern, hatte er ihre Qualen in die Länge gezogen. Und seine eigene Lust.
    Die Herzschläge auf dem Monitor hatten sich wieder beschleunigt. Obwohl ihre Stimme monoton und leblos klang, schwelte die Angst hinter der ruhigen Fassade weiter.
    »Was ist dann passiert, Nina?«, fragte er.
    »Irgendwann im Lauf des Nachmittags muss ich eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, war es schon wieder dunkel. Ich hatte solchen Durst. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als nur an Wasser, Wasser …«
    »Hat er Sie irgendwann allein gelassen? Waren Sie zu irgendeinem Zeitpunkt allein im Haus?«
    »Ich weiß nicht. Alles, was ich hören konnte, war der Fernseher. Als er ihn ausschaltete, wusste ich Bescheid. Ich wusste, dass er in mein Zimmer zurückkommen würde.«
    »Und als er dann kam, hat er da das Licht eingeschaltet?«
    »Ja.«
    »Haben Sie sein Gesicht sehen können?«
    »Nur seine Augen. Er trug eine Maske. Die Art, wie Ärzte sie benutzen.«
    »Aber seine Augen haben Sie gesehen?«
    »Ja.«
    »Haben Sie ihn erkannt? Hatten Sie diesen Mann irgendwann in Ihrem Leben schon einmal gesehen?«
    Es war lange still. Moore fühlte, wie sein eigenes Herz pochte, während er auf die erhoffte Antwort wartete.
    Dann sagte sie leise: »Nein.«
    Er ließ sich gegen die Rückenlehne sinken. Die Spannung in dem Raum war schlagartig in sich zusammengefallen. Für dieses Opfer war der Chirurg ein Fremder, ein Namenloser, und es blieb weiter ein Rätsel, weshalb er ausgerechnet sie ausgesucht hatte.
    Er versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als er sagte: »Beschreiben Sie ihn uns bitte, Nina.«
    Sie holte tief Luft und schloss die Augen, wie um die Erinnerung vor ihrem inneren Auge heraufzubeschwören. »Er hatte … er hatte kurze Haare. Sehr sauber geschnitten …«
    »Welche Farbe?«
    »Braun. Ein heller Braunton.«
    Das passte zu dem Haar, das sie in Elena Ortiz’ Wunde gefunden hatten. »Er war also ein Weißer?«, fragte Moore.
    »Ja.«
    »Augen?«
    »Hell. Blau oder grau. Ich hatte Angst, ihm direkt in die Augen zu sehen.«
    »Und seine Gesichtsform? Rund, oval?«
    »Schmal.« Sie überlegte kurz. »Normal.«
    »Größe und Gewicht?«
    »Es ist schwierig …«
    »Versuchen Sie zu schätzen.«
    Sie seufzte. »Durchschnittlich.«
    Durchschnittlich. Normal. Ein Monster, das aussah wie jeder andere.
    Moore wandte sich an Frost. »Zeigen wir ihr die Sixpacks.«
    Frost reichte ihm eins der Verbrecheralben. Die Fotoserien wurden »Sixpacks« genannt, weil es von jedem Täter sechs Aufnahmen gab. Moore legte das Album auf einen Nachttisch mit Rollen und schob diesen an die Patientin heran.
    Die nächste halbe Stunde verbrachten sie damit, ihr beim Durchblättern der Alben zuzusehen, während ihre Hoffnungen mehr und mehr schwanden. Niemand sagte etwas, die einzigen Geräusche waren das Zischen des Sauerstoffs und das Rascheln der Seiten beim Umblättern. Es handelte sich um die Fotos polizeibekannter Sexualtäter, und während Nina Seite um Seite umblätterte, drängte sich Moore das Gefühl auf, dass die Reihe der Gesichter endlos war, dass diese Porträts für die dunkle Seite in jedem einzelnen Mann standen, für die tierhaften Triebe, die sich hinter der Maske des Menschlichen verbargen.
    Er hörte ein Klopfen am Fenster der Kabine. Als er den Kopf hob, sah er Jane Rizzoli, die ihm zuwinkte.
    Er ging hinaus, um mit ihr zu sprechen.
    »Schon einen Treffer gelandet?«, fragte sie.
    »Wir werden keinen bekommen. Er trug eine OP-Maske.«
    Rizzoli runzelte die Stirn. »Wieso eine Maske?«
    »Es könnte ein Teil seines Rituals

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