Die Chirurgin
nichts darüber sagen. Ich frage dich nach deiner Patientin in Bett zwölf, und du willst mir auch über sie nichts sagen.«
»Die Polizei hat mich gebeten, nicht darüber zu reden.«
»Die Polizei scheint neuerdings über dein ganzes Leben zu bestimmen. Wieso?«
»Es ist mir nicht gestattet, darüber zu sprechen.«
»Ich bin nicht nur dein Partner, Catherine. Ich dachte, ich wäre auch dein Freund.« Er trat einen Schritt auf sie zu. Er war ein Mann von beeindruckender Statur, und sie fühlte sich plötzlich durch seine bloße Nähe in die Enge getrieben.
»Ich sehe doch, dass du Angst hast. Du schließt dich in deinem Büro ein. Du siehst aus, als hättest du seit Tagen keinen Schlaf bekommen. Ich kann nicht einfach tatenlos dastehen und mir das ansehen.«
Catherine riss Nina Peytons Röntgenaufnahme vom Leuchtkasten herunter und schob sie in den Umschlag.
»Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Doch, das hat es, wenn es dich betrifft.«
Ihre Abwehrhaltung schlug augenblicklich in Zorn um. »Jetzt wollen wir mal etwas klarstellen, Peter. Ja, wir arbeiten zusammen, und ja, ich respektiere dich als Chirurgen. Ich mag dich als Kollegen. Aber wir führen jeder sein eigenes Leben. Und wir vertrauen einander ganz gewiss nicht unsere Geheimnisse an.«
»Warum nicht?«, fragte er leise. »Was ist es, was du mir nicht zu sagen wagst?«
Sie starrte ihn an, verstört durch die Sanftheit seiner Stimme. In diesem Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlicher, als sich diese Last von der Seele zu reden, ihm in allen peinlichen Einzelheiten zu erzählen, was damals in Savannah geschehen war. Doch sie wusste um die Konsequenzen einer solchen Beichte. Vergewaltigt zu werden, das begriff sie nur zu gut, bedeutete, für immer gezeichnet zu sein, für immer das Opfer. Mitleid konnte sie nicht zulassen. Nicht von Peter, nicht von dem Mann, dessen Respekt ihr alles bedeutete.
»Catherine?« Er streckte die Hand nach ihr aus.
Sie betrachtete sie durch einen Schleier von Tränen. Und wie eine Ertrinkende, die die schwarzen Meeresfluten der Rettung vorzieht, griff sie nicht danach.
Stattdessen drehte sie sich um und verließ den Raum.
12
Die unbekannte Patientin ist umgezogen.
Ich halte ein Röhrchen mit ihrem Blut in der Hand und bin enttäuscht, weil es sich kühl anfühlt. Es hat schon zu lange im Probenständer gesteckt, und die Körperwärme, die dieses Röhrchen anfangs enthalten hat, ist schon durch die Glaswand abgestrahlt und hat sich in der Luft verflüchtigt. Kaltes Blut ist etwas Totes, ohne Energie und ohne Seele, und es lässt mich ungerührt. Mein Blick fällt auf das Etikett, ein weißes Rechteck, das auf dem Röhrchen klebt; darauf sind der Name des Patienten, die Zimmernummer und die Nummer des Krankenhauses abgedruckt. Obwohl anstelle des Namens » Unbekannt/w « auf dem Etikett steht, weiß ich, um wessen Blut es sich wirklich handelt. Sie ist nicht mehr auf der chirurgischen Intensivstation. Sie ist nach Zimmer 538 verlegt worden – in die Chirurgie.
Ich stecke das Röhrchen in den Ständer zurück, zu den zwei Dutzend anderer Proben, alle verschlossen mit blauen und violetten, roten und grünen Gummistöpseln. Jede Farbe steht für ein bestimmtes Verfahren. Die Proben mit violettem Verschluss sind für Blutbilder bestimmt, die mit blauem für Gerinnungstests, die mit rotem für chemische und Elektrolytanalysen. In einigen der Röhrchen mit rotem Stöpsel ist das Blut bereits zu dunkelroten gallertartigen Säulen geronnen. Ich blättere den Stapel von Laboranweisungen durch und finde den Zettel für die unbekannte Patientin. Heute Morgen hat Dr. Cordell zwei Tests angeordnet: großes Blutbild und Serum-Elektrolyte. Ich wühle weiter in den Laboranweisungen vom Vorabend und finde den Durchschlag einer weiteren Anforderung, unterschrieben von Dr. Cordell als verantwortlicher Ärztin.
» Stat.: Arterielle Blutgase nach Extubierung.
2 Ltr. Sauerstoff über Sauerstoffbrille. «
Nina Peyton ist extubiert worden. Sie atmet jetzt selbstständig, holt Luft ohne mechanische Hilfen, ohne einen Schlauch in ihrem Hals.
Ich sitze regungslos an meinem Arbeitsplatz und denke nicht an Nina Peyton, sondern an Catherine Cordell. Sie glaubt diese Runde gewonnen zu haben. Sie hält sich für Nina Peytons Lebensretterin. Es ist an der Zeit, sie in ihre Schranken zu weisen. Es ist an der Zeit, ihr Demut beizubringen.
Ich greife nach dem Telefon und rufe die Diätküche des Krankenhauses an. Eine Frau antwortet mit
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